Gefährliches „Engelchen-flieg“-Spiel
Der Fall. Die 3-jährige Sophie ist an diesem Nachmittag Ihre erste Patientin. „Die Kinder haben heut Vormittag ,Engelchen flieg‘ gespielt, beginnt Frau K. das Ereignis zu schildern. „Sie hat am Ende einmal furchtbar geweint, weil ihr der Arm wehgetan hat. Kurz danach waren die Schmerzen weg, und es ging ihr gut. Nur ist mir aufgefallen, dass sie seitdem ihren rechten Arm nicht mehr bewegt, daher kommen wir jetzt zu Ihnen. Da stimmt was nicht!“ Sophie sitzt auf dem Schoß der Mama und hält den rechten Arm in Schonhaltung. Ein Sturz wird von der Mutter sowie von Sophie verneint. Auch sei ansonsten alles in Ordnung und keine weiteren Auffälligkeiten zu berichten. Was hat die kleine Sophie, und wie können Sie ihr helfen? (ärztemagazin 12/2017)
„Die Subluxation besteht erst kurz; die Chancen, sie zu reponieren, stehen gut“
Dr. Bettina Baltacis,
Fä f. Kinder- und Jugend-heilkunde; Ärztin für Allgemeinmedizin; ÖÄK-Diplom für Homöopathie; Wien
Sowohl die Symptomatik wie auch der Hergang der Beschwerden legen nahe, dass Sophie eine Subluxation des Radiusköpfchens hat. Diese kann bei Kleinkindern bis ins Vorschulalter auftreten, wenn das ganze Körpergewicht, eventuell noch mit zusätzlichem Schwung, an einem Arm zur Wirkung kommt, wie es bei einem Stolpern an der Hand der Begleitperson oder solchen Schwungspielen wie „Engelchen flieg“ vorkommen kann. Typischerweise wird der Arm dann in leicht gebeugter, pronierter Schonhaltung gehalten und schmerzbedingt nicht bewegt, daher auch der Name Pronatio dolorosa.
Da die Subluxation erst kurz besteht, stehen die Chancen gut, sie zu reponieren. Dazu bitte ich die Mutter, Sophie auf dem Schoß zu halten und zu beruhigen. Dann fasse ich den betroffenen Ellbogen mit einer Hand, ergreife mit der anderen die Hand des Kindes. Ich bringe den pronierten Unterarm in Beugung, dann supiniere und strecke ich ihn mit sanftem Zug. Die Reposition ist als leichter Klick im Ellbogen zu spüren.
Wenn einige Minuten verstrichen sind und Sophie sich beruhigt hat, bitte ich die Mutter, Sophies unverletzte linke Hand leicht zu fixieren und biete Sophie ein Spielzeug oder eine kleine Belohnung so an, dass sie mit der rechten Hand zugreifen muss. Der Erfolg der Behandlung zeigt sich, wenn Sophie ihren Arm wieder normal bewegt. Sollte der Repositionsversuch nicht gelingen, unternehme ich nur einen weiteren Versuch, wenn auch dann eine Reposition nicht gelingt, überweise ich an eine Kinderchirurgie zur weiteren Abklärung.
In jedem Fall erkläre ich der Mutter, wie es zu der Verletzung gekommen ist. Ich weise darauf hin, dass es bei ähnlichen plötzlichen Belastungen im Ellbogen wieder dazu kommen kann und es daher klug wäre, solche Situationen zu meiden. Falls Sophie noch über Schmerzen bei Bewegung klagt, verordne ich Arnica C 30 Globuli bzw. Traumeel-Salbe lokal.
„Im Englischen ist der treffende Ausdruck ‚pulled ellbow gebräuchlich“
O. Univ.-Prof. em. Dr. Ernst Horcher,
Ehem. Vorstand der Klinischen Abteilung f. Kinderchirurgie, Univ.-Kinik für Chirurgie, Wien
Die Pronatio dolorosa, von Chassaignac beschrieben, ist eine Subluxation des Radiusköpfchens und eine relativ häufige Verletzung des Kleinkindes. Der typische Unfallhergang ist der abrupte Zug am Arm des Kindes, um das Kind beim Fallen oder Stolpern abrupt hoch zu reißen, um es vor dem Fall zu bewahren. Im Englischen ist der treffende Ausdruck „pulled ellbow“ gebräuchlich. Das Kind hat Schmerzen, bewegt den Arm nicht mehr, er hängt eher schlaff herunter, und der Unterarm ist in deutlicher Pronation fixiert.
Das Radiusköpfchen ist in diesem Alter noch relativ klein und kann bei brüskem Zug im Ligamentum radii eingeklemmt werden. Bei der Untersuchung besteht eine Druckempfindlichkeit in der Gegend des Radiusköpfchens, keine Weichteilschwellung und eine mehr oder weniger ausgeprägte Schonhaltung in Pronationsstellung des Unterarmes. Die Therapie besteht in der langsamen Drehung des Unterarmes in Supinationsstellung und Flexion in der Ellenbeuge, wobei der Untersucher mit der einen Hand die Ellenbeuge umfaßt und den Daumen als Hypomochlion in die Ellenbeuge des betroffenen Armes einlegt.
Mit der anderen Hand dreht er den Unterarm vorsichtig in Supinationsstellung und beugt den Unterarm im Ellbogengelenk. Die Reposition des Radiusköpfchens gestaltet sich leicht und problemlos. Bei ordnungsgemäß durchgeführtem Repositionsmanöver bewegt das Kind den Arm sofort wieder schmerzfrei und spielt. Dies ist die Betätigung für die gelungene Reposition. Eine Röntgenaufnahme erübrigt sich, eine Ruhigstellung mit elastischer Binde ist nur bei Rezidiven empfehlenswert.
„Da kein Sturz beschrieben wird, kann auf ein Röntgen verzichtet weden“
Dr. Ursula Tonnhofer, FEAPU,
FÄ f. Kinderchirurgie, Ordination Goldenes Kreuz, Wien
Was die Mutter hier schildert, ist eine typische Geschichte. Ohne weitere Diagnostik kann man annehmen, dass es sich bei Sophie um eine Pronatio dolorosa handelt, auch Chassaignac-Lähmung genannt. D.h. es ist zu einer Subluxation des Speichenköpfchens aus dem Ringband (Lig. anulare) und einer Einklemmung in dieser Position gekommen. Dies tritt nur bei Kleinkindern bis zum 5. Lebensjahr auf, da das Köpfchen und das Band noch nicht im richtigen Größenverhältnis zueinander stehen.
Ursache ist, abgesehen vom oben geschildertem „Fliegen“, auch das „Nachziehen eines Kindes, das nicht weitergehen möchte“ (Nursemaid’s elbow). Auch ein ruckartiges Zurückziehen, bei gestrecktem und nach innen gedrehtem Unterarm, z.B. wenn ein Kind über die Straße laufen möchte, kann Ursache sein. Das Kind wird vielleicht kurz aufweinen, aber feststellen, wenn es den Arm in Schonhaltung in Pronation herunter hängen lässt, dass der Schmerz verschwindet. Es wird den Arm aber nicht mehr benützen.
Da in der Anamnese kein Sturz beschrieben wurde, kann auf ein Röntgen verzichtet werden. Am Besten bleibt das Kind am Schoß der Bezugsperson sitzen. Also im oben genannten Fall würde ich die kleine Sophie in ein Gespräch verwickeln und dann mit einer schnellen Bewegung den Unterarm in Supination und Flexion bringen, wobei das Ellbogengelenk mit meiner anderen Hand fixiert bzw. das Radiusköpfchen in die korrekte Position gedrückt wird.
Vielleicht wird das Kind kurz erschrecken. Danach wird das Mädchen ihren Arm wieder ganz normal benützen. Zur Sicherheit sollte der Behandelnde dem Kind noch ein paar Spielsachen anbieten und es beim Spielen beobachten, ob alle Bewegungen uneingeschränkt ausgeführt werden können. Weitere Kontrollen oder Untersuchungen sind nicht notwendig. Es bedarf keinerlei Verbände, Fixationen oder körperlicher Einschränkungen mehr. Wenn Sie sich als Arzt nicht ganz sicher sind, würde es sich anbieten, das Kind Spezialisten auf einer Kinderchirurgie oder Unfallchirurgie vorzustellen.