Aus der Toolbox der Gentherapie

Genetik

Gentherapien geben Grund zur Hoffnung. Aber wie funktionieren diese Techniken eigentlich? Welche Methoden gibt es und wo gibt es schon Erfolge? Eine Bestandsaufnahme am Beispiel neuromuskulärer Erkrankungen. (Medical Tribune 15/18)

Wer unter einer seltenen neuromuskulären Erkrankung leidet, ist vom Schicksal gleich mehrfach gestraft: Zur oft dramatischen Symptomatik kommen die diagnostische Odyssee durch den Mangel an Wissen und Experten und die häufig fehlenden therapeutischen Optionen. Für Wissenschaftler und Industrie sind Krankheiten mit geringen Fallzahlen meist ein wenig interessantes und lukratives Forschungsfeld. Dennoch hat es in letzter Zeit im Bereich seltener Erkrankungen einige bemerkenswerte Erfolge gegeben. Zu verdanken ist das vor allem dem intensiven Lobbying von Patientenorganisationen, neuen gesetzlichen Regelungen (Orphan Drug Act), Registern, mit denen seltene Fälle heute weltweit erfasst werden und nicht zuletzt dem wissenschaftlichen Fortschritt.

In den letzten Jahren standen unter den Medikamenten, die eine Zulassung als Orphan Drug erhielten, meist Biologicals an vorderster Front. Ein anderer Ansatz, von dem seltene Erkrankungen in Zukunft besonders profitieren könnten, ist die Gentherapie. Welche Techniken stehen dafür heute zur Verfügung? Auf der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie warf Univ.-Prof. Dr. Fritz Zimprich, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien, einen Blick in die Toolbox der Gentherapeuten.

Antisense-Oligonukleotide (ASOs) mit Zielort mRNA

Zielort der derzeit am weitesten entwickelten Gentherapie-Technik ist die messenger RNA, also das Bindeglied zwischen der chromosomalen DNA und der Proteinsynthese in den Ribosomen. Vorläufermolekül der mRNA ist die prä-mRNA, aus der die nicht kodierenden Abschnitte (= Introns) noch durch Spleißen herausgeschnitten werden müssen. Die fertige mRNA besteht nur noch aus aneinandergereihten Exons, die eine Bauanweisung für Proteine enthalten. Bei vielen genetischen Erkrankungen führt eine fehlerhafte mRNA dazu, dass funktionsgestörte, schädliche oder gar keine Proteine gebildet werden. Antisense-Oligonukleotide (ASOs) sind nun künstlich hergestellte Oligonukleotide, deren Basenpaare komplementär zur mRNA sind. Wenn die ASOs an die fehlerhafte mRNA binden, wird dadurch deren Abbau veranlasst oder zumindest die Translation, also die Übersetzung der genetischen Information in eine Aminosäuresequenz, verhindert.

Eine Erkrankung, bei der die Zerstörung toxischer mRNA-Moleküle durch ASOs im Tiermodell bereits recht gut funktioniert, ist die Myotone Dystrophie Typ 1 (häufigste hereditäre Muskelerkrankung des Erwachsenenalters). Die Sicherheit und Verträglichkeit dieser Therapie wurde auch bereits bei Menschen in Phase-Iund Phase-II-Studien untersucht. Durch ein cleveres Design kann man mit ASOs aber auch einzelne Exons blockieren und dadurch erreichen, dass diese beim Spleißmechanismus übersprungen werden (Exon Skipping). Ein Beispiel für einen erfolgreichen Einsatz von Exon Skipping ist die Duchenne-Muskeldystrophie: Bei einem Teil der Patienten kommt es durch eine Mutation im Dystrophin-Gen zu einer Deletion der Exons 49 und 50. Dadurch wird bei der Translation der Leserahmen verschoben und die Proteinbildung vorzeitig abgebrochen. Schaltet man nun durch eine ASO-Therapie zusätzlich noch das Exon 51 aus, wird der Leserahmen wiederhergestellt.

Durch die fehlenden Exons ist das entstehende Protein zwar etwas kürzer als normal, aber funktionstüchtig. In einer Zulassungsstudie konnte gezeigt werden, dass diese Therapie, für die 13 % aller Duchenne-Patienten geeignet sind, auch in der Praxis wirkt: Bei zwölf Buben mit bevorstehendem Verlust der Gehfähigkeit kam es durch die Behandlung nicht nur zu einer signifikanten Erhöhung der Dystrophin-positiven Muskelfasern, sondern auch zu einer klinischen Verbesserung im 6-Minuten-Gehtest. Ganz anders funktioniert die ASO-Therapie bei der spinalen Muskelatrophie, der zweithäufigsten autosomal rezessiven Erkrankung im Kindesalter: Ursache dieser Störung ist eine Deletion im SMN1-Gen, die zu einem Verlust des SMN-Proteins und zum Absterben der Motoneurone führt.

Das Spannende ist, dass es im Körper noch eine zweite, fast idente Kopie dieses Gens gibt: SMN2 produziert jedoch bei Gesunden nur wenig funktionales Protein, weil einem Großteil der mRNA-Moleküle das Exon 7 fehlt. Hier ist es Forschern gelungen, durch spezifische ASOs so in den Spleißvorgang von SMN2 einzugreifen, dass der Verlust des 7. Exons verhindert und dadurch vermehrt funktionsfähiges SMN-Protein gebildet wird. In der ENDEAR-Studie konnte gezeigt werden, dass Kinder mit spinaler Muskelatrophie, denen der Antisense- Wirkstoff Nusinersen intrathekal injiziert wurde, im Vergleich zur Placebogruppe signifikant häufiger überlebten und Meilensteine der motorischen Entwicklung erreichten. „Das ist zwar noch keine Heilung der Erkrankung, aber doch eine deutliche Verbesserung“, so Zimprich.

Gentransfer mit viralen Vektoren

Schon seit rund 20 Jahren werden genetisch modifizierte Viruspartikel verwendet, um genetisches Material gezielt in Zellen einzubringen. Geeignet dafür sind vor allem Adeno-assoziierte Viren (AAV), weil diese einen variablen Zelltropismus aufweisen. „Das heißt, man kann mit diesen Vektoren unterschiedliche Zellen ansteuern“, erklärt Zimprich. Da sie nicht in die chromosomale DNA eingebaut werden, sind die AVV auch relativ sicher. „Nachteil ist, dass sie nur eine relativ kleine Trägerlast von 5kB haben, was für viele Anwendungen zu wenig ist.“ Mittlerweile gibt es schon über 100 klinische Studien, in denen Adeno-assoziierten Viren als Vektoren dienten.

Ein Beispiel, in dem das besonders gut funktioniert hat, ist die spinale Muskelatrophie, bei der ja auch bereits ASOs erfolgreich angewandt wurden: Während von 15 Kindern, denen einmalig in AAV verpackte SMN-Gene infundiert wurden, keines im Alter von 20 Monaten eine künstliche Beatmung benötigte, kamen in einer historischen Vergleichsgruppe zum selben Zeitpunkt nur noch acht Prozent ohne permanente Beatmung aus. „Von den zwölf Kindern, die eine höhere Dosis erhalten hatten, erlernten elf Sitzen, einen motorischen Meilenstein, der im Normalfall bei dieser Erkrankung überhaupt nie erreicht wird“, unterstreicht der Neurologe die beeindruckende Effektivität des Gentransfers.

Genomeditierung mittels Genschere

Bei dieser Technik, die zwar noch in den Kinderschuhen steckt, aber besonders vielversprechend ist, ist das Ziel eine permanente Korrektur des genetischen Defekts im chromosomalen Kontext. Verwendet werden dafür Enzyme, die die doppelsträngige DNA an einer genau definierten Stelle schneiden. Am bekanntesten ist die CRISPRCas9- Methode, bei der die Genschere mit einer guide-RNA an den Defekt herangeführt wird. Im Bereich des DNA-Bruchs kann dann entweder ein neues Gen eingeschleust oder ein schädliches Gen herausgeschnitten werden (Paste- oder Cut-Variante). Es gibt auch schon erste klinische Studien mit dieser neuartigen molekularbiologischen Methode, z.B. bei HIV und Sichelzellanämien. Im Tierversuch funktioniert Genomediting auch bereits bei neuromuskulären Erkrankungen: Bei der mdx-Maus, einem Modell für die Duchenne-Muskeldystrophie, konnten Forscher durch die Deletion eines Exons des Dystrophin-Gens mittels CRISPR-Cas9 einen verschobenen Leserahmen wiederherstellen und eine signifikante Kraftverbesserung der Tiere beobachten.

„Obwohl Gentherapien vielerorts bereits an der Schwelle zur klinischen Anwendung stehen, müssen noch viele Fragen geklärt werden“, betont Zimprich. Vor einer breiten Anwendung dieser Techniken bedarf es noch methodischer Verbesserungen, ethischer Diskussionen und gesetzlicher Regelungen. Auch Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit müssen gewährleistet sein. Das Problem der enormen Kosten – derzeit bei manchen Behandlungen noch mehrere hunderttausend Euro pro Jahr – sieht der Neurologe pragmatisch: „Im Prinzip ist die den Therapien zugrunde liegende Technik relativ einfach. Wenn etwas einmal funktioniert, ist es verhältnismäßig leicht für andere genetische Defekte adaptierbar. Es ist daher davon auszugehen, dass die Kosten in Zukunft deutlich sinken werden.“

15. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie; Linz, März 2018

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune