„Fragen Sie nach dem kleinen Unterschied!“
In allen medizinischen Fächern gibt es mittlerweile ein Bewusstsein für die mitunter beträchtlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern hinsichtlich Epidemiologie, Prognose oder Therapieansprechen. Allerdings findet dieses Wissen in medizinischen Leitlinien oder Diagnosekriterien bislang ebenso wenig Niederschlag wie in der ärztlichen Aufklärung, betont Österreichs erste Professorin für Gendermedizin, Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer. Vor Kurzem wurde sie zur Wissenschafterin des Jahres gekürt. (CliniCum 1-2/17)
Kautzky-Willer: Natürlich habe ich mich sehr gefreut, und ich bin auch sehr stolz auf diese Auszeichnung. Noch größer war die Freude, als ich erfahren habe, welche namhaften österreichischen Wissenschafter, darunter Kolleginnen aus der Medizin, diese Auszeichnung bereits erhalten haben. Für mich bedeutet die Wahl aber nicht nur eine Anerkennung meiner Leistungen, sondern genauso eine enorme Wertschätzung für die Gendermedizin.
Unser medizinisches Wissen laiengerecht und medial weiterzugeben heißt zunächst, Gesundheitsförderung und Prävention zu unterstützen. Genauso ist es aber nötig, dass wir die Menschen direkt ansprechen und informieren – das verstehe ich unter dem Schlagwort „Patient-Empowerment“. Eine ebenso wichtige Zielgruppe sind für mich alle Personen in den Gesundheitsberufen – von der Medizin selbst über die Krankenpflege oder Diätologie bis hin zu Sportwissenschaft. Wenn auch wir in den Gesundheitsberufen gut über Genderthemen Bescheid wissen, dann trägt dies ganz wesentlich zu Früherkennung oder besserer Behandlung bei.
Wir haben es mit einem Paradoxon zu tun. Frauen sind im Vergleich zu Männern meist besser informiert über Gesundheitsthemen, sie haben mehr und frühere Arztkontakte oder gehen eher zu Vorsorgeuntersuchungen. Dennoch sind sie nicht gesünder: Gemessen an den gesunden Lebensjahren, also Lebensjahren, die mit Wohlbefinden und ohne psychische, physische oder sexuelle Beschwerden einhergehen, liegen Frauen deutlich hinter Männern. Österreichische Frauen und Männer liegen zudem deutlich hinter jenen in andern europäischen Ländern – und dies, obwohl wir eines der besten Gesundheitssysteme haben. Es muss also irgendwo der sprichwörtliche Hund begraben sein.
Ein Faktor ist vermutlich die Kommunikation: Frauen schildern im Arztgespräch ihre Beschwerden viel diffuser und nennen eher eine Fülle von Problemen. Ärztlicherseits könnte dies zu einer Überforderung führen, und es erhöht das Risiko, dass das tatsächliche Problem nicht so leicht diagnostiziert oder die Beschwerden voreilig auf psychische Ursachen, etwa Angststörungen, zurückgeführt werden. Männer gehen dagegen erst vergleichsweise spät in die Arztordination, dafür schildern sie ihre Beschwerden knapp und konkret. Das bedeutet, ihr Problem wird eher erkannt und zielgerichtet behandelt.
Zudem gibt es Unterschiede bei der Compliance. Frauen ziehen eher alternative Behandlungen in Betracht, sie haben bei vielen medikamentösen Therapien häufigere und stärkere Nebenwirkungen. Ein Beispiel dafür sind Statine, wovon Frauen eher Muskelschmerzen bekommen und die sie seltener laut Verordnung einnehmen als Männer. Auch wenn die Ursachen vielschichtig sind, so wäre es enorm wichtig, schon in der ärztlichen Aufklärung auf etwaige Unterschiede einzugehen.
Sicher sind die Psychiatrie oder die Kardiologie in gewisser Weise wegbereitend. Doch obwohl wir schon lange wissen, dass sich psychiatrische Erkrankungen zwischen den Geschlechtern sowohl hinsichtlich Symptomen und Häufigkeit unterscheiden – Depression und Suizidalität sind wohl die bekanntesten Beispiele, es gilt aber genauso für ADHS, Schizophrenie oder Autismus –, finden diese Unterschiede bislang keinen Niederschlag in den Diagnose-Manualen oder Behandlungsleitlinien.
Ganz ähnlich verhält es sich in der Kardiologie: Der Herzinfarkt manifestiert sich bei Frauen anders als bei Männern, und obwohl dies schon lange bekannt ist, ist bei Frauen die Zeit zwischen Erstsymptomen und Behandlungsbeginn viel länger als bei Männern, zudem werden sie insgesamt seltener leitlinienkonform behandelt.
Fächer wie Chirurgie, Orthopädie oder Urologie, wo es bis vor Kurzem im Hinblick auf Genderfragen nur wenige Erkenntnisse gab, holen in jüngerer Zeit diesbezüglich auf. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass immer mehr Kolleginnen in diese Fächer streben, sich dort habilitieren und damit die Forschung zu Genderfragen vorantreiben.
Auch beim Typ-II-Diabetes stehen wir vor dem vorhin beschriebenen Paradoxon: Frauen geben sich in ihrem Gesundheitsverhalten mehr Mühe, trotzdem haben sie meist schlechtere HbA1c-Werte als Männer, sie sind häufiger übergewichtig, haben ein größeres Risiko für Unterzuckerung und meist auch mehrere andere Risikofaktoren. Ebenso begegnen wir hier einem unterschiedliche Verhalten in der Therapie: Frauen legen eher Wert auf Zuwendung seitens der Behandler, Männer dagegen auf strukturierte Informationen und sie profitieren sehr gut von strukturierten Diabetes-Schulungen.
Es ist unter anderem bekannt, dass Frauen öfter an Paradontitis leiden, auch bei der Besiedelung mit Mundkeimen gibt es Geschlechter-spezifische Unterschiede, die sich wiederum auf Entzündungsprozesse im gesamten Organismus auswirken. Der Einfluss der Sexualhormone ist dabei nicht zu übersehen, es ist allerdings noch viel Forschungsarbeit nötig, um die Unterschiede genauer aufzuklären.
Typischerweise bei allen Erkrankungen, die bei Frauen häufiger vorkommen. Dies gilt bei der Depression genauso wie bei Osteoporose oder Brustkrebs. Wer denkt schon daran, dass ein Mann Brustkrebs bekommen kann und wenn, dass er eine viel schlechtere Prognose hat? Das sind einfach blinde Flecken in der Medizin.
Ja, natürlich. Dazu gehören vor allem die Begründerin der Gendermedizin, Marianne Legato an der Columbia University in den USA, Karin Schenck-Gustafsson am Karolinska-Institut oder der Gynäkologe Marek Glezerman, der sich an der Universität von Tel Aviv für die Gendermedizin einsetzt.
Fragen Sie bei allen medizinischen Themen bzw. Interviews nach, ob und welche Genderaspekte es gibt. Oft sind den ärztlichen Kollegen diese zwar bekannt, sie vergessen aber vielleicht, eigens darauf hinzuweisen. Das vorhandene Wissen nützt nichts, wenn es nicht transportiert wird – in Laien- wie in Fachkreisen!
Wertschätzung für Gendermedizin
Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer (54) ist Fachärztin für Innere Medizin. Sie habilitierte sich mit einer Arbeit über Insulinresistenz und ist seit 2002 als Oberärztin an der Universitätsklinik für Innere Medizin III in Wien tätig. Anfang 2010 wurde Kautzky-Willer an der Meduni Wien die bislang erste Professorin für Gendermedizin Österreichs, wobei sie im Zuge der Verleihung der Professur die Gender Medicine Unit gründete. Kautzky-Willer ist aktiv in nationalen und internationalen Fachgesellschaften, u.a. ist sie Vorstandsmitglied der Internationalen Gesellschaft für Gendermedizin und Stv. Vorsitzende der Österreichischen Diabetesgesellschaft. Neben zahlreichen Fachpublikationen hat Kautzky-Willer Publikationen für Laien zum Thema Geschlechter-spezifische Gesundheit oder Diabetes verfasst.
Die Auszeichnung
Seit 1994 wählen Österreichs Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten alljährlich den/die Wissenschafterin des Jahres. Mit der Auszeichnung sollen Wissenschafter gewürdigt werden, die ihre Arbeit und ihr Fach einer breiten Öffentlichkeit verständlich machen und damit das Image der heimischen Forschung heben.
Der Pathologe und Altersforscher Georg Wick erhielt als Erster diese Auszeichnung, ebenso wurden der Prionenforscher Herbert Budka, die Plastische Chirurgin Hildegunde Piza, die Allergieforscherin Fatima Ferreira oder die Mikrobiologin René Schroeder ausgezeichnet. Weiters durften unter anderen der Weltraumforscher Wolfgang Baumjohann oder der Experimentalphysiker Anton Zeilinger den Titel „Wissenschafter des Jahres“ für sich verbuchen.
www.wissenschaftsjournalisten.at