29. Mai 2014

Lebenslang leben mit ADHS

In einem 2013 vom European Brain Council publizierten White Paper (1) weisen führende Experten auf die beachtliche Häufigkeit von Attention Deficit Hyperactivity Disorder ADHD (im deutschen Sprachgebrauch auch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – ADHS) hin. Betroffen ist in Europa jedes 20. Kind (2) und – dieser Aspekt wird häufig übersehen – auch eine beachtliche Zahl von Erwachsenen. Denn die Annahme, ADHD vergehe in der Adoleszenz von alleine, hat sich als Irrtum herausgestellt. Vermutlich haben an die 70 Prozent der betroffenen Kinder auch als Erwachsene Aufmerksamkeits-Probleme. Im Alter von 25 Jahren sind zwar nur mehr bei 15% der ehemaligen ADHD-Kinder die Diagnosekriterien vollständig erfüllt, jedoch befinden sich rund 50% lediglich in partieller Remission und zeigen Residualsymptome in einem behindernden Ausmaß (3).

Die teuerste psychiatrische Störung überhaupt

Nicht selten treten schwerwiegendere Probleme mit dem ADHD überhaupt erst im jüngeren Erwachsenenalter auf. Das betrifft vor allem hochintelligente ADHD-Patienten. Diese leiden zwar bereits als Kinder unter der Erkrankung und sind damit auch durchaus auffällig, können jedoch dank ihrer intellektuellen Kapazität ihre Defizite innerhalb des reglementierten Schulalltags noch einigermaßen kompensieren. An der Universität und im Beruf gerät diese Kompensation an ihre Grenzen. Die Folgen sind abgebrochene Ausbildungen, desolate Erwerbsbiographien und nicht selten psychiatrische Komorbiditäten, wobei Substanzprobleme die wichtigste Rolle spielen. Auch die Delinquenz ist bei Erwachsenen mit ADHD überdurchschnittlich hoch. Studiendaten zeigen, dass mehr als 10% der erwachsenen ADHD-Patienten einen Gefängnisaufenthalt hinter sich haben (4). Angesichts der hohen Prävalenz, lebenslangen Beeinträchtigungen und erheblichen Auswirkungen auf Ausbildung und berufliche wie private Perspektiven könnte ADHS sogar die teuerste psychiatrische Erkrankung überhaupt sein. Bei Erwachsenen ist ADHD massiv unterdiagnostiziert. Dr. Esther Sobanski vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim spricht von einer tatsächlichen Prävalenz von rund 4%, der jedoch eine Diagnose-Prävalenz von lediglich einem halben Prozent gegenübersteht.

Genetik spielt eine zentrale Rolle

Die Ursachen von ADHD sind nicht bekannt, eine maßgebliche genetische Komponente gilt als sehr wahrscheinlich und könnte bis zu 80 Prozent zum individuellen Risiko beitragen. Studien zum SNP-Genotyping zeigen für ADHD eine ausgeprägtere Erblichkeit als für sämtliche andere psychiatrische Erkrankungen (5). Allerdings ist die Genetik des ADHS keineswegs simpel. Es ist eine Reihe von Kandidaten-Genen bekannt, die allesamt mit dem Serotonin- oder Dopamin-Transport zu tun haben. Ein zusätzlicher gesicherter Risikofaktor ist mütterliches Rauchen während der Schwangerschaft.

Die Folge sind nicht zu unterschätzende Einschränkungen der Gehirnfunktion. Bildgebende Un-tersuchungen (PET, MRI, fMRI) zeigen ein vermindertes Volumen in präfrontalem Cortex, Globus pallidus, Corpus callosum und Kleinhirnwurm. Dysfunktionen können in präfrontalem Cortex, Nucleus accumbens, Nucleus caudatus und Striatum festgestellt werden – dies jedoch nicht im Sinne einer Über- sondern einer Unterfunktion, die besonders in reizarmer Umgebung zum Tragen kommt. Die in der Bildgebung darstellbaren Defekte entsprechen dem klinischen Bild mit Störungen von Arbeitsgedächtnis, Exekutivfunktionen, Impulskontrolle, Belohnungsprozessen, Zeiteinteilung etc. Eine besondere Rolle scheint dabei dem default mode network, dem “Ruhezustandsnetzwerk” des Gehirns zuzukommen. Dieses sollte beim Lösen von Aufgaben deaktiviert werden – was bei Menschen mit ADHD schlechter bzw. nur dann funktioniert, wenn entsprechende Belohnung in Aussicht gestellt wird. In der Praxis bedeutet das, dass sich viele Menschen mit ADHD nur bei Tätigkeiten konzentrieren können, die ihnen Spaß machen – also beispielsweise beim Sport oder beim Musizieren. Die verstärkte Aktivität des default mode network bei ADHD sowie die Behandelbarkeit dieses Zustandes konnten mittlerweile auch in der Bildgebung nachgewiesen werden (6).

Hohe psychiatrische Komorbidität

Die Symptomatik präsentiert sich bei Kindern und Erwachsenen unterschiedlich. Die bei jungen Patienten typische (allerdings auch nicht immer vorhandene) Hyperaktivität nimmt mit dem Alter ab während die Aufmerksamkeit eingeschränkt bleibt. Auch stehen bei Erwachsenen ADHS-Patienten häufig die Komorbiditäten im Vordergrund. Neben Sucht-Problemen sind vor allem Schlafstörungen oder Phobien häufig. Beobachtet wird allerdings auch oft eine erhöhte Impulsivität, die nicht zuletzt mit riskantem Verhalten im Straßenverkehr in Verbindung gebracht wird. Hinter der vermehrten Delinquenz steht einerseits auch impulsives Verhalten der Patienten, andererseits und in erster Linie aber deren Neigung zu Suchterkrankungen. Psychiatrische Komorbiditäten verschlimmern die ADHD-Symptomatik (7).
Interessant ist auch das Geschlechterverhältnis: Über lange Zeit wurde angenommen, dass von ADHD großteils Buben und Männer betroffen sind. Diese Sicht der Dinge dürfte ihre Ursache in Unterdiagnose beim weiblichen Geschlecht haben. Während Buben nämlich durch ausgeprägte Hyperaktivität auffällig werden, steht bei Mädchen das Aufmerksamkeitsdefizit im Vordergrund, was zu einer Einschätzung als unaufmerksame, uninteressierte Schülerin, aber nicht zu einer psychiatrischen Diagnose führt. Mit zunehmendem Alter verschiebt sich die Symptomatik auch bei den Männern, was sich bei Patienten jenseits der 40 in einem Geschlechterverhältnis von annähernd 50:50 äußert (8).

Autismus schließt ADHD nicht mehr aus

Die Diagnose wird klinisch gestellt. Versuche einer besser objektivierbaren Diagnostik mittels Bildgebung oder EEG haben zwar interessante Studienergebnisse, darüber hinaus jedoch noch keine klinisch verwertbaren Resultate gebracht. Dr. Ana Isabel Cubillo Fernandez vom Londoner Kings College weist auf die kürzlich geänderten Diagnoskriterien in der neu erschienenen 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) hin. Eine wichtige Änderung im Vergleich zu DSM-4 betrifft das Erkrankungsalter. Konnte früher ein ADHD nur diagnostiziert werden, wenn die Symptome vor dem 7. Lebensjahr auftraten, wird nun ein Erkrankungsalter bis zu 12 Jahren akzeptiert. Auch schließt eine Erkrankung aus dem autistischen Spektrum nach DSM-5 ein ADHD nicht mehr aus. Um die Diagnose ADHD zu rechtfertigen, müssen mehrere Symptome aus den Bereichen Aufmerksamkeitsstörung oder Hyperaktivität vorhanden sein und zu Einschränkungen in Funktion oder Lebensqualität führen. Die Diagnose-Manuals (also DSM und ICD) laufen auf die zentralen Symptome Ablenkbarkeit, körperliche Unruhe und Impulsivität hinaus, wobei diese Symptome nicht durch eine andere psychiatrische Erkrankung erklärbar sein dürfen. Typischerweise ist die Symptomatik dauerhaft vorhanden, woraus sich die Abgrenzung gegenüber einer bipolaren Störung ergibt.
Die Therapie des ADHS sollte multimodal gestaltet werden. Coaching und unterstützende Psychotherapie spielen ebenso eine Rolle wie Medikamente. First Line ist Methylphenidat (Ritalin) in sehr geringen Dosierungen, das auch als Retard-Formulierung zur Verfügung steht. Die ideale therapeutische Dosis ist individuell verschieden und muss titriert werden. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit muss Ritalin dreimal am Tag eingenommen werden. Dieses Problem lösen Retard-Formulierungen, die bis zu 12 Stunden wirken. Eine Alternative stellt der hochselektive SNRI Atomoxetin dar. Beide Substanzen haben sich in zahlreichen Studien als wirksam hinsichtlich der verschiedenen ADHD-Symptome und der daraus resultierenden Beeinträchtigungen erwiesen. Ein wesentlicher Unterschied liegt im Eintreten der Wirkung. Während sich der Effekt von Ritalin sofort einstellt und rasch wieder abnimmt, dauert es einige Wochen, bis Atomoxetin seine Wirkung entfaltet. Gemäß den britischen NICE-Guidelines ist die medikamentöse Therapie erste Wahl bei Kindern mit schwerer ADHD-Symptomatik und Erwachsenen (9). Psychologische Interventionen werden bei Kindern mit leichten bis moderaten Symptomen als Therapie der ersten Wahl empfohlen, haben sich bei Erwachsenen jedoch nur in Kombination mit Medikamenten als wirksam erwiesen.

Computertraining statt Medikamente?

An nicht-medikamentösen Interventionen wird intensiv geforscht. So beschäftigt sich eine Gruppe am Karolinska Institut in Stockholm mit den Defiziten des Arbeitsgedächtnisses bei ADHD-Patienten, die durch spezielles Training beeinflusst werden sollen. In einer randomisierten, kontrollierten Doppelblindstudie konnte bei 53 Kindern mit ADHS eine Verbesserung der Arbeitsgedächtnisleistung durch computer-gestützte systematische Arbeitsgedächtnisaufgaben gezeigt werden. Die Untersuchung ergab einen signifikanten Behandlungserfolg sowohl während des Untersuchungszeitraums als auch bei der Nachuntersuchung (10). Der Vorteil des computergestützten Trainings liegt darin, dass damit möglich wird, den Schwierigkeitsgrad automatisch und laufend an die Leistung des Kindes anzupassen und so den Trainingseffekt zu optimieren. Die exekutiven Funktionen wurden gemessen und die ADHS-Symptome vor, unmittelbar nach, sowie drei Monate nach Durchführung des Trainingsprogramms bewertet. Aufgrund der Schwere des Problems und des weit verbreiteten Unbehagens angesichts massenhafter Verschreibungen psychiatrischer Medikamente für Schulkinder, könnte solchen Ansätzen in Zukunft verstärkte Bedeutung zukommen.

1) ADHD: making the invisible visible – www.europeanbraincouncil.org
2) Polanczyk G et al. Am J Psychiatry 2007; 164: 942-948
3) Faroane et al. Psych Med. 2006, Vol 36, Pg 159- 165
4) Able S et al ADHD 2013; 5: 236
5) Cross-Disorder Group of the Psychiatric Genomics Consortium. Nat Genet. 2013 Sep;45(9):984-94
6) Liddle EB et al. J Child Psychol Psychiatry. 2011 Jul;52(7):761-71
7) Simon V et al. Eur Psychiatry. 2013 Jun;28(5):308-14
8) Bitter I. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2010 Jun;260(4):287-96
9) http://guidance.nice.org.uk
10) Klingberg et al., J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2005;44(2):177-86