27. März 2014

Fibromyalgie: Mythen und Fakten

WIEN – Um kaum eine Schmerzerkrankung ranken sich so viele Mythen und Unsicherheiten wie um das Fibromyalgie-Syndrom (FMS). Dieses deshalb als rein psychiatrisches bzw. psychotherapeutisches Problem abzutun, ist allerdings verfehlt. Vielmehr gilt es im Sinne der Patienten auf gesichertes Faktenwissen zu fokussieren.

Seit ihrer Aufnahme in die Krankheitslisten der WHO im Jahr 1994 ist die Fibromyalgie eine anerkannte Erkrankung. Die chronische Krankheit ist durch Schmerzen der Muskulatur, des Bindegewebes und der Gelenke gekennzeichnet, mitunter tut „der ganze Körper“ weh. Dem steht das weitgehende Fehlen von klinischen bzw. Laborbefunden gegenüber. Im Zusammenhang mit dem Fibromyalgie-Syndrom werde eine ganze Reihe von Hypothesen vertreten, wie PD Dr. Winfried Häuser, Leiter des Zentrums für Schmerztherapie am Klinikum Saarbrücken, ausführt: „Die medizinische Fachwelt liefert sich zum Teil erbitterte Kontroversen über Klassifikation, Ätiologie, Diagnose und Therapie der Krankheit. Einige der mitunter vertretenen Meinungen sind aber wohl Glaubensbekenntnisse einzelner Fachdisziplinen, was den Patientinnen – Frauen sind vier- bis siebenmal so häufig betroffen wie Männer – nicht weiterhilft.“ Daher plädiert Doz. Häuser dafür, den zahlreichen Halbwahrheiten und Fehlmeinungen gesichertes Wissen zum umstrittenen Krankheitsbild entgegenzusetzen: „Das erspart Betroffenen jahrelange Unsicherheit und viele unnötige Schmerzen, denn so kann rascher eine passende Therapie eingeleitet werden.“

Keine somatoforme Schmerzstörung

Doz. Häuser, der federführend an der Entwicklung der deutschen interdisziplinären Leitlinie zum Fibromyalgie-Syndrom beteiligt war, kritisiert besonders die Tendenz zur Psychiatrisierung der Krankheit. Die manchmal auch Patientinnen gegenüber vertretene Behauptung, FMS gäbe es gar nicht, sei alleine durch die Aufnahme der Fibromyalgie in die offizielle Krankheitsliste der WHO widerlegt. Doz. Häuser: „Verbreitet ist immer noch die Annahme, es handle sich bei FMS um eine somatoforme Schmerzstörung, bei der sich der Schmerz entwickelt oder intensiviert, nachdem die Betroffenen emotionalen oder psychosozialen Belastungen ausgesetzt waren.“ Zwar erfüllen in klinischen Einrichtungen 60 bis 80 Prozent der FMS-Patientinnen auch die Kriterien einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, doch sind die Kriterien für die Diagnose der beiden Erkrankungen eben nicht identisch.

„Das FMS ist nicht pauschal mit einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bzw. einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren gleichzusetzen“, heißt es dazu in der Fibromyalgie-Leitlinie. Gerne wird das Fibromyalgie- Syndrom auch als larvierte Depression eingestuft. Auch diese in der Psychiatrie beliebte Sichtweise entspricht nicht der Datenlage. Doz. Häuser: „Je nach verwendeten diagnostischen und anderen Parameter erfüllen nur 30 bis 80 Prozent der FMS-Patienten die Kriterien einer depressiven Störung. Nicht jeder FMS-Patient ist also depressiv und nicht jeder depressive Patient leidet an Schmerzen an verschiedenen Körperregionen.“

FMS kommt selten allein

Die ausgeprägten Überlappungen des FMS mit anderen Erkrankungen können auch die Folge verbreiteter Komorbiditäten sein. Die deutschen interdisziplinären Leitlinien klassifizieren die Krankheit als funktionelle Störung, die selten in Reinform auftritt. FMS geht häufig einher mit anderen funktionellen Störungen, etwa dem Reizdarmsyndrom, psychischen Störungen (Depression, Angst- oder posttraumatische Belastungsstörungen) oder somatischen Begleiterkrankungen wie einer entzündlichen Rheumaerkrankung. Bei einer multilokulären Schmerzsymptomatik können aber auch einige Schmerzregionen durch somatische Krankheitsfaktoren erklärt werden, beispielsweise Nervenschmerzen nach einem Bandscheibenvorfall. Auch die Genese ist unklar.

Prospektive bevölkerungsbasierte Studien weisen Adipositas, Bewegungsmangel, Rauchen und Schlafstörungen als Risikofaktoren aus. In prospektiven Kohortenstudien waren Depressionen, Arbeitsplatzkonflikte, aber auch entzündlich rheumatische Erkrankungen mit dem FMS assoziiert. Fallkontrollstudien zeigen in der Anamnese von FMS-Patentinnen häufig (sexuellen) Missbrauch. Man nimmt an, dass diese Noxen zu einer zentralen Hypersensitivierung, einer Dysfunktion der Hypothalamus- Hypophysen-Nebennierenachse und Störungen im autonomen Nervensystem führen. Vermutlich wird es in Zukunft möglich werden, Untergruppen des FMS zu definieren. Im Zentrum der Diagnostik standen viele Jahre lang die sogenannten Tender Points, Druckpunkte, die bei FMS-Patienten in ausreichender Zahl schmerzempfindlich sein sollten.

Sowohl die geforderte Zahl als auch die Lokalisation dieser Punkte hielten einer evidenzbasierten Überprüfung allerdings nicht stand. Doz. Häuser: „Die Tender- Point-Untersuchung zur Diagnose des FMS ist inzwischen überholt. Neuere Studien haben gezeigt, dass die druckempfindlichen Punkte unspezifische Schmerzpunkte sind und bei FMS-Patientinnen auch durchaus fehlen können.“

Letztlich eine Ausschlussdiagnose

Laut Leitlinien wird die Diagnose heute anhand der klassischen Schmerzsymptomatik in mehreren Körperregionen gestellt. Schmerzskizzen und ein Beschwerde-Fragebogen sind dabei wichtige Hilfsmittel. Letztlich handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose gegenüber körperlichen Erkrankungen, welche die Beschwerden ausreichend erklären. Auch die Einnahme von Medikamenten, die chronische Schmerzen auslösen können, muss ausgeschlossen werden – ebenso wie entzündlich rheumatische Erkrankungen und Muskelkrankheiten. Wichtige Anhaltspunkte dazu liefert das Labor, konkret die Bestimmung von Entzündungsparametern (Senkung, CRP) und der Kreatinkinase.

Kalzium und TSH können ebenfalls wichtige Hinweise auf Schmerzursachen liefern. Erschwert wird die Diagnostik durch das häufige Auftreten von Mischbildern. Auch hinsichtlich der Therapie warnt Doz. Häuser vor dem psychotherapeutischen Paradigma, denn „realistische Therapieziele sind der Erhalt und die Verbesserung der Leistungsfähigkeit im Alltag. Beschwerdefreiheit, wie sie manchmal vor allem von psychodynamisch orientierten Psychotherapeuten fälschlicherweise in Aussicht gestellt wird, ist dagegen ein unrealistisches Ziel. Psychotherapie kann Fibromyalgie leider nicht heilen.“

Maßgeschneiderte Therapien

Angesichts der vielen möglichen Ursachen und der sehr verschiedenen Verläufe ist bei der Fibromyalgie immer ein individualisiertes Vorgehen angezeigt. Bei leichten Verläufen sei etwa gar keine spezifische Behandlung indiziert. Betroffene sollten aber zu regelmäßigen körperlichen und geistigen Aktivitäten ermutigt werden. Eine medikamentöse Therapie kann in solchen Fällen laut Leitlinien hilfreich sein, ist aber keineswegs bei allen Betroffenen erforderlich. Die Leitlinie spricht für kein Medikament eine starke Empfehlung aus, rät jedoch dezidiert davon ab, starke Opioide einzusetzen.

Bei allen in der Indikation FMS untersuchten Medikamenten (vor allem Antidepressiva und Antikonvulsiva) wurden geringe Effektstärken und hohe Abbruchraten wegen Nebenwirkungen festgestellt. In der Praxis gehe es also vor allem darum, Responder zu identifizieren. Keinesfalls sollte eine medikamentöse Therapie als alleinige Maßnahme betrieben werden. Bei schweren Verläufen sollte neben aerobem Training und meditativen Bewegungstherapien wie Qi-Gong oder Yoga eine zeitlich befristete medikamentöse sowie multimodale Therapie empfohlen werden, darunter mindestens ein körperlich aktivierendes und ein psychotherapeutisches Verfahren.

18. Internationales Wiener Schmerzsymposium, März 2014

 

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune