Ärztin in paralympischer Mission
Die Wiener Fachärztin für Physikalische Medizin und Allgemeine Rehabilitation Dr. Michaela Mödlin ist derzeit als Teamärztin des Österreichischen Paralympischen Committees (ÖPC) bei ihren 6. Paralympics im Einsatz. Kurz vor der Abreise nach Tokio verriet sie im Gespräch mit medonline.at, wie sie sich auf die zu erwartenden Anforderungen vorbereitet.
Medonline.at: Frau Dr. Mödlin, Sie sind Teamärztin des Paralympic Team Austria, unterstützt von einem Medical Team mit fünf Physiotherapeuten bzw. Masseuren. Wie wichtig ist Teamarbeit für Sie?
Dr. Michaela Mödlin: Enorm wichtig! Ich bezeichne mich als absolute Teamworkerin und ich genieße auch bei meiner Tätigkeit im Spital die multidisziplinäre Zusammenarbeit. Mich interessiert es stets sehr, was andere Fachleute über ein medizinisches Problem denken, und diesen Teamgedanken nehme ich mit in meine Aufgabe als Teamärztin bei den Paralympics. Als Ärztin alleine kann ich bei den Spielen vor Ort nur sehr wenig ausrichten; ich bin zudem auf die Zusammenarbeit mit den Kollegen in Japan angewiesen.
Auf welche besonderen medizinischen Erfahrungen stellen Sie sich in Tokio ein? Nach bisherigen Erfahrungen treten bei sportlichen Großereignissen sehr häufig Erkältungen auf, wie Sie selbst kürzlich beim Team-Workshop des ÖPC warnten.
Laut Statistiken des Internationalen Paralympischen Committees sind Infekte bei paralympischen Athleten sogar doppelt so häufig wie bei olympischen Athleten. Das liegt zum Teil daran, dass im internationalen Vergleich viele Sportler mit zum Teil schweren Behinderungen dabei sind. Insgesamt kommen aber mehrere Faktoren zusammen, die eine Belastung für das Immunsystem darstellen: die Reise über mehr als fünf Zeitzonen, häufiger Wechsel zwischen der Hitze draußen und klimatisierten Innenräumen und ein individuelles Stress-Erleben durch die Wettkämpfe.
Wie lassen sich Ihre bisherigen Erfahrungen zusammenfassen und worin bestehen Ihre konkreten Aufgaben in Tokio?
Bei meinen bisherigen paralympischen Einsätzen gab es glücklicherweise keine gravierenden medizinischen Probleme, Infekte waren bislang die häufigsten Beschwerden. Gerade bei Rollstuhlfahrern ist mit der Möglichkeit von Harnwegsinfekten zu rechnen: Da heißt es, ganz besonders auf genügend Flüssigkeitszufuhr und strenge Hygiene beim Kathetern zu achten.
Meine Aufgabe in Tokio ist es, dafür zu sorgen, dass jeder im Team im Bedarfsfall die medizinische Versorgung bekommt, die er braucht. Das bedeutet auch, in der Kommunikation mit dem Medizinischen Team im Olympischen Dorf und der Delegation des ÖPC zu unterstützen. Japan hat bekannterweise ein exzellentes Gesundheitssystem und im paralympischen Dorf steht uns rund um die Uhr eine Poliklinik mit den wesentlichen diagnostischen Einrichtungen wie Labor, Ultraschall, Röntgen oder MRT zur Verfügung. In der Erstversorgung kann also eine gute diagnostische Abklärung erfolgen. Ich habe außerdem die Möglichkeit, vor Ort Rezepte auszustellen, etwa für Antibiotika bei Bedarf. Für physikalische Therapien braucht es laut den Bestimmungen allerdings eine Anordnung durch japanische Kollegen.
Covid-19 ist eines der vorrangigen Themen und Sie plädieren unter anderem dringend für die Impfung.
Wir haben zum Glück in der gesamten Delegation eine sehr hohe Durchimpfungsrate. Bei einzelnen Personen gab es zwar Sorgen, dass sich mögliche Nebenwirkungen einer Impfung nachteilig im Training und Wettkampf auswirken könnten. Das ist bei Athletinnen und Athleten bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, nicht nachvollziehen kann ich jedoch Vorbehalte gegen die Impfung im Betreuerteam. Selbst wenn in Tokio strenge Maskenpflicht herrscht und täglich getestet wird, so sollte ein Impfschutz vorhanden sein. Zudem bedeutet eine mögliche Quarantäne das Aus für den Wettkampf.
Was müssen paralympische Athleten in puncto Doping beachten?
Der Behindertensport ist in den letzten Jahren derart professionell geworden, dass das Thema Doping auf internationaler Ebene heute eine vergleichbare Rolle spielt wie bei den olympischen Disziplinen. Die nationale Anti-Doping-Agentur NADA warnt zudem vor einem „Incidental Doping“, also möglichen Verunreinigungen beispielsweise von Nahrungsergänzungsmitteln, die zu positiven Proben führen können. Die Sportler werden unter anderem durch eine Online-Schulung damit vertraut gemacht und ich weise auch darauf hin, dass sie selbst dafür verantwortlich sind, auf ihren Athletenstatus hinzuweisen. Das bedeutet, wenn sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, müssen sie die Behandler darauf aufmerksam machen, dass bei Bedarf um eine Medizinische Ausnahmegenehmigung (Therapeutic Use Exemption, TUE; Anm.) angesucht werden muss - die Verantwortung liegt also klar bei den Athletinnen und Athleten.
Wie haben Sie das Team auf die klimatische Belastung vorbereitet?
Schon nach den Paralympics in Rio dachte ich, es kann nicht schlimmer werden – allerdings war in Brasilien zur Zeit der Paralympics Winter! Nach Berechnung internationaler Sportgremien, die auf Basis von Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Sonneneinstrahlung und Wind die „Wet Bulb Globe Temperature“ errechnet haben, werden die Paralympics in Tokio die „hottest ever“. Das ergibt eine deutliche Belastung für Athleten, bei denen Training und Wettkampf viel Aufenthalt im Freien erfordern: also etwa Leichtathletik, Radfahren, Tennis oder Pferdesport. Ich habe im Vorfeld Head Coaches und Physiotherapeuten, die in engem Kontakt mit Sportlern sind, entsprechend informiert, wie sich Hitzebelastungen reduzieren lassen, also entsprechender Sonnenschutz durch Kleidung, Kühlung und Flüssigkeitszufuhr. Dies gilt ganz besonders für Sportler mit Querschnittlähmung, die nur schlecht schwitzen können.
Wie bereiten Sie selbst sich auf Ihren Einsatz vor?
Wie schon bei den vergangenen paralympischen Missionen besteht für mich die größte Herausforderung, im Vorfeld neben der Tätigkeit im Spital in meiner Freizeit den enormen administrativen Aufwand zu bewältigen. Dazu gehören Formalitäten zum Transport des medizinischen Equipments oder das Erfassen der Medical Records aller Delegationsteilnehmer bis hin zum Vortrag beim Teamworkshop und Einzelgesprächen. Die Reise zu den Spielen ermöglicht mir mein Dienstgeber durch Sonderurlaub.
Abschließend: Was wünschen Sie sich von Ihren ärztlichen Kollegen hierzulande in Bezug auf eine Förderung des Behindertensports?
Dass Sie die Paralympics mitverfolgen! Sie sind alles andere als Rehabilitationssport, sondern hochprofessioneller Leistungssport!
Dabei wissen wir allerdings auch, dass ein derart hochprofessioneller Sport enorme Belastungen für den Bewegungsapparat bedeutet: So müssen beispielsweise Rollstuhlfahrer auf mögliche Verschleißerscheinungen im Schulterbereich achten, um Mobilität und Schmerzfreiheit langfristig zu erhalten. Gesundheitssport ist jedoch für Menschen mit Behinderungen genauso wichtig und gesundheitsfördernd wie für alle anderen Menschen, denken wir nur an die Prävention von Übergewicht oder Herz-Kreislaufproblemen. Hinzu kommt, dass aktiver Sport genauso wie berufliche Leistungen oder ehrenamtliche Tätigkeiten positive Erlebnisse vermitteln, die sich günstig auf die Psyche auswirken und den Selbstwert stärken – bei Menschen mit und ohne Behinderung! Da sollten wir keinen Unterschied machen. Ich würde mir daher wünschen, dass wir uns in der Ärzteschaft mehr damit auseinandersetzen, was eine Einschränkung im Alltag bedeutet und wie jeder Einzelne gut damit leben kann. Es geht nicht immer darum, den sogenannten „Normalzustand“ anzustreben.
Vielen Dank für das Gespräch!
Paralympics Tokio 2020
Am 24. August 2021 werden die Paralympics Tokio 2020 eröffnet, 24 Athletinnen und Athleten treten unter den rot-weiß-roten Farben in acht Sportarten an. Bei den letzten Paralympics in Rio 2016 gewann das heimische Team insgesamt neun Medaillen. Im „Virtual Austria House“ werden täglich um 19.00 Uhr MESZ live News und Ergebnisse vom Paralympic Team Austria gesendet. www.oepc.at
Dr. Michaela Mödlin arbeitet als Fachärztin für Physikalische Medizin und Allgemeine Rehabilitation an der Klinik Ottakring im Wiener Gesundheitsverbund, in ihrer Fachgesellschaft fungiert sie als Referentin für Behindertensport. Sie selbst war aktive Judoka und absolvierte eine Trainer-Ausbildung, wobei sie lange Jahre als Trainerin im Wiener Blindeninstitut arbeitete und sich etwa im Österreichischen Judoverband für den Behindertensport einsetzte. Gemeinsam mit dem damaligen Teamarzt Dr. Heinz Zwerina war Mödlin 2004 bei den Paralympics in Athen erstmals im Einsatz, seit den Paralympics Peking 2008 ist sie als alleinige Teamärztin bei allen Sommer-Paralympics vor Ort.
Die Interviewerin Mag. Christina Lechner arbeitet als Sportpsychologin mit dem Österreichischen Paralympischen Committee (ÖPC) zusammen und steht während der Spiele Athleten und Betreuern für online-Beratungen zur Verfügung. Sie traf Dr. Michaela Mödlin beim Teamworkshop des Paralympischen Committees in Wien, das Interview wurde auf ZOOM geführt.