17. Juli 2020Psychische Erkrankungen

„Home Treatment wäre eine enorme Chance“

Die enge Vernetzung von Versorgungsauftrag und Klinischer Forschung zählt zu den Stärken der Innsbrucker Universitätsklinik für Psychiatrie I. Der kürzlich zum Direktor bestellte Univ.-Prof. Dr. Alex Hofer sprach mit CliniCum neuropsy über seine Pläne zur Erweiterung des Angebotes. (CliniCum neuropsy 1/20)

CliniCum neuropsy: Nach zwei Jahren als interimistischer Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie I in Innsbruck wurden Sie im Herbst 2019 definitiv an diese Position berufen – was bedeutet dieser Schritt für Sie?

Alex Hofer: Nicht nur für mich, sondern auch für das gesamte Team der Abteilung ist es sehr erfreulich, dass nun die Richtung für die nahe Zukunft klar definiert ist. Das bedeutet auch, dass wir nun konkrete Schritte setzen und neue Ziele verfolgen können. Vor der definitiven Bestellung hieß es bei vielen Fragen zunächst „abwarten“.

Sie wollen „neue Akzente“ setzen, heißt es in der Pressinformation. Wie sehen diese aus?

Persönlich ist mir der Aufbau einer peripartalen psychiatrischen Versorgung ein sehr großes Anliegen. Diesbezüglich entwickeln wir derzeit in Zusammenarbeit mit verschiedenen Abteilungen der Tirol Kliniken sowie extramuralen Einrichtungen ein Pilotprojekt. Es soll sich an psychisch kranke Frauen richten, die schwanger werden, und genauso an Frauen, die während oder nach einer Schwangerschaft seelisch erkranken. Die Prävalenz ist sehr hoch und eine adäquate Versorgung ist auch aus volkswirtschaftlicher Sicht höchst notwendig. Dabei herrscht gerade während einer Schwangerschaft bei Frauen und auch ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten meist große Unsicherheit, wenn es um die Verordnung von Psychopharmaka geht. In der Folge findet dann vielleicht gar keine psychiatrische Behandlung statt.

Von besonderer Bedeutung ist selbstverständlich auch die extramurale, nichtärztliche Betreuung der Familien z.B. in Form von Psychotherapie oder sozialpädagogischer Betreuung. Geplant ist nun, dass wir zunächst hier an der Klinik eine Spezialsprechstunde anbieten. Als nächster Schritt soll gemeinsam mit der Medizinischen Psychologie und der Gynäkologie sowie den „Frühen Hilfen Tirol“ (Anm.: gezielt Frühinterventionen während der Schwangerschaft und postpartal) Angebote für ganz Tirol einzurichten. Dazu brauchen wir allerdings auch politische Unterstützung!

Welche weiteren Ziele verfolgen Sie in nächster Zukunft?

Ein großes Ziel ist es auch, für ganz Tirol ein Home Treatment zu etablieren, wofür wir gerade ein Pilotprojekt eingereicht haben und ebenfalls auf politische Unterstützung hoffen. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass viele Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen aus verschiedenen Gründen nicht in eine regelmäßige psychiatrische Betreuung kommen können. Eine „Drehtür-Psychiatrie“ ist dann oft die Folge, wie wir an der Klinik immer wieder erfahren. Hier ein Home Treatment mit Anbindung an die Universitätsklinik zu schaffen wäre eine enorme Chance. Es müssten dafür Teams gebildet werden, zu denen neben Fachärztinnen und Fachärzten auch Pflegekräfte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Bereichen Sozialarbeit, Psychologie, Ergotherapie oder Peer-psych-Beratung gehören. Diese könnten dann bei Bedarf rasch und sogar täglich die Patientinnen und Patienten aufsuchen und sie bedarfsgerecht betreuen, womit wiederum die Zahl der Aufnahmen zurückgeht. Ziel ist letztendlich die Überführung der betreuten Personen in ein Regelsystem.

Worauf beruht Ihr Verständnis vom Führen einer Abteilung?

Es ist zwar ein viel zitiertes Schlagwort, aber eine psychiatrische Abteilung kann aus meiner Sicht nur dann gut geführt werden, wenn wir uns am biopsychosozialen Modell orientieren. Das ist zugleich unser Leitbild, das von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragen wird. Insofern ist es sehr erfreulich, dass heute die Psychotherapie fixer Bestandteil der psychiatrischen Fachausbildung ist. Hinzu kommt ein großer Fokus auf die Kooperation mit anderen medizinischen Fachrichtungen sowie mit extramuralen Einrichtungen, etwa Tagesstrukturen. Durch unseren Schwerpunkt im akutpsychiatrischen Bereich betreuen wir viele Patientinnen und Patienten mit somatischen Komorbiditäten, die aufgrund ihrer psychischen Situation mitunter nicht in der Lage sind, für die entsprechenden Behandlungen zu sorgen. Dem gilt es, Rechnung zu tragen.

Eine Uni-Klinik zu leiten bedeutet Führungsfunktion mit Patientenversorgung, Ausbildung und Forschung zu vereinbaren. Wie gelingt Ihnen das?

Ich sehe diese Bereiche gar nicht als verschiedene Funktionen, sondern viel mehr als verschiedene Arbeitsbereiche an, von denen jeder für sich spannend und befriedigend ist. Geht es um die Vereinbarkeit von Patientenversorgung, Forschung und Lehre, so betrifft dies sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit universitärer Anstellung. Praktika anzuleiten oder Diplomarbeiten sowie Dissertationen zu betreuen ist beispielsweise Teil unserer täglichen Aufgaben. In puncto Forschung haben wir hier in Innsbruck eine gute Tradition in der klinisch orientierten Forschung. Zugleich haben wir als Abteilung einen Versorgungsauftrag für die Stadt Innsbruck – und dieser lässt sich hervorragend mit diesem wissenschaftlichen Aspekt kombinieren. In unserer Psychosensprechstunde beispielsweise werden rund 100 Patientinnen und Patienten regelmäßig betreut. Während woanders der Teilnahme an Klinischen Studien vielleicht mit größeren Vorbehalten begegnet wird, fragen uns Patientinnen und Patienten mitunter schon aktiv, ob wir wieder eine neue Studie haben, an der sie teilnehmen können. Es ist für sie anscheinend schon genauso selbstverständlich wie für uns, die Forschung mit der medizinischen Behandlung zu vereinbaren.

Gerade Schizophrenie ist auch einer Ihrer wissenschaftlichen Schwerpunkte. Worin sehen Sie hier die bedeutendsten Fortschritte in jüngster Zeit?

Eindeutig haben wir mit den Antipsychotika der zweiten und dritten Generation in den vergangenen Jahren die größten Fortschritte erreicht, unter anderem können heute damit sowie im Einklang mit einer Psychotherapie kognitive Symptome gut behandelt werden. Aktuell liegt der Fokus auf der Optimierung der Negativsymptomatik, wo es noch großes Verbesserungspotenzial gibt und wo ich mir in naher Zukunft Verbesserungen erwarte. Im Brennpunkt der Forschung stehen dabei die Rezeptorprofile neuer Substanzen, denn Negativsymptome wie Störungen des Antriebs oder der Kontaktfähigkeit sind im Gegensatz zu Positivsymptomen nicht mit einem Dopaminüberschuss assoziiert.

Eines Ihrer Anliegen ist auch die Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wie sind dabei nachhaltige Verbesserungen zu erreichen?

Leider sind psychische Erkrankungen trotz vielfältiger Initiativen noch immer sehr stark stigmatisiert. Was wir versuchen, ist im Kontakt mit den Patientinnen und Patienten deren internalisiertes Stigma zu beeinflussen. In der Praxis erweist es sich als enormes Problem, wenn Betroffene die gesellschaftlichen Stigmata selbst übernehmen. Das gilt übrigens nicht nur für Schizophrenie, sondern etwa auch für eine Depression. Psychisch Kranke haben oft große Angst vor Ablehnung oder Verlust des Arbeitsplatzes und schaffen es daher nicht, über ihre Diagnose offen zu sprechen. Dabei machen viele Menschen, die sich zu ihrer psychischen Erkrankung bekennen, sogar positive Erfahrungen –, etwa wenn ihr Umfeld unterstützend reagiert. Dagegen ist es für Angehörige oder Kolleginnen und Kollegen sehr irritierend, wenn Erkrankte lange nach Ausflüchten für Leistungseinbußen suchen. Auch mit den oft abgeflachten Affekten kommen Mitmenschen nur schwer zurecht. Unser Credo lautet daher „Wer informiert ist, wird nicht so leicht stigmatisiert“, und ich versuche selbst, wann immer möglich, an Trialog-Veranstaltungen teilzunehmen. Erst durch eine zwischenmenschliche Begegnung gelingt es uns, tatsächlich in einem gemeinsamen Boot zu sitzen.

Welche Chancen für die Weiterentwicklung der Psychiatrie sehen Sie durch Kooperationen zwischen den psychiatrischen Universitätskliniken in ganz Österreich?

Solche Kooperationen machen ohne Zweifel sehr viel Sinn und sind in jedem Fall zu begrüßen. Aktuell sind in absehbarer Zeit Neubesetzungen für die Leitung der Universitätskliniken in Wien und Graz und wohl auch an der Johannes Kepler Universität in Linz zu erwarten – und aus meiner Sicht spricht alles für eine Vernetzung mit meinen künftigen Kolleginnen oder Kollegen, so wie sie bereits mit den aktuellen Leitern bestehen.

Zur Person

Univ.-Prof. Dr. Alex Hofer (49) ist seit Oktober 2019 Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie I an der Medizinischen Universität Innsbruck. Nach der zweijährigen interimistischen Leitung tritt Hofer damit offiziell die Nachfolge des nunmehrigen Rektors Univ.-Prof. Dr. W. Wolfgang Fleischhacker an. Innerhalb des Departments für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (Geschäftsführende Direktorin: Univ.-Prof. Dr. Barbara Sperner-Unterweger) ist die „Psychiatrie I“ die größte Klinik mit derzeit 99 Betten, ihr Schwerpunkt liegt im akutpsychiatrischen Bereich unter besonderer Berücksichtigung der organisch bedingten psychischen Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, schizophrenen und affektiven Störungen.

Spezialsprechstunden gibt es unter anderem für Patientinnen und Patienten mit schizophrenen Erkrankungen (Psychosensprechstunde), affektiven Störungen (Sprechstunde für Stimmungsschwankungen, Phasenprophylaxesprechstunde), neurokognitiven Störungen (Gedächtnissprechstunde) oder krankhafter Eifersucht. Insgesamt 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind derzeit an der Klinik beschäftigt, darunter 35 Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologinnen und Psychologen, weitere rund 100 Pflegekräfte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Bereich der Physio- und Ergotherapie und der Sozialarbeit.

Der aus Innichen (Südtirol) stammende Hofer ist seit 2004 durchgehend am Department in leitenden Funktionen tätig und war vor der interimistischen Leitung der Abteilung von 2017–2019 bereits deren stv. Direktor. Zu seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten gehören schizophrene und affektive Störungen, ebenso beschäftigt er sich mit dem Thema Resilienz.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy