Wie aus Babys internetsüchtige Kinder und Jugendliche werden
„Schöne digitale Welt? Kinder und Jugendliche im Internet – Chance oder Gefahr?“ lautete der Titel des 6. Kinder- und Jugendpsychiatrie-Kongress Innsbruck. Zu den beunruhigenden Ergebnissen zählt, dass jeder zehnte Jugendliche gefährdet ist, internetsüchtig zu werden, oder es bereits manifest ist.
Die demnächst erscheinende Klassifikationssystem ICD-11 wird auch das Krankheitsbild „Gaming Disorder“ enthalten, also eine psychische Erkrankung, die durch das Computerspielen ausgelöst wird. „Wir sind mit der Situation konfrontiert, dass wir diese Diagnose vergeben werden, und es macht daher Sinn, sich dazu schon vorher Gedanken zu machen“, erläutert Univ.-Prof. Dr. Martin Fuchs, leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Innsbruck. Seit vier Jahren beschäftigt sich Fuchs auch im Rahmen von Studien mit den unterschiedlichen Formen von Internetsucht bei Kindern und Jugendlichen in Tirol.
Eltern und Ärzte müssen Überzeugungsarbeit leisten
Die dabei bisher erzielten Ergebnisse sind weitgehend deckungsgleich mit internationalen Studien. „Von 100 Jugendlichen nützen 90 das Internet und verwandte Techniken kompetent und unauffällig“, erklärt Fuchs. „Von den verbleibenden zehn haben drei ein manifest suchtartiges Verhalten, sieben stehen an der Schwelle zum schädlichen, suchtartigen Gebrauch.“ Die Dimension des Problems zeigt sich auch darin, dass von den sechs für Suchterkrankungen reservierten Betten der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Tirol Kliniken in Hall in Tirol durchschnittlich 20 Prozent durch junge Patienten mit nicht stoffgebundenen Süchten belegt sind.
Univ.-Prof. Dr. Kathrin Sevecke, Leiterin der Haller Kinder- und Jugendpsychiatrie, hebt hervor, dass es bei der Internetsucht besonders schwierig sei, die betroffenen Kinder und Jugendlichen von der Notwendigkeit einer stationären Behandlung zu überzeugen. Dabei sei klar, dass eine Behandlung nur freiwillig erfolgen kann, es gegebenenfalls viel Überzeugungsarbeit durch Eltern und Ärzte braucht, um „zumindest eine winzige Motivation“ zu erreichen.
Handyverbot auf dem Nachtkastl
Die Abgrenzung zwischen normalem und problematischem Medienkonsum ist nicht einfach, denn Handy oder Tablet sind „Tagebuch, Musiksammlung, Notizzettel, Fotoalbum und damit für die Jugendlichen einer ihrer privatesten und wichtigsten Gegenstände“, sagt Fuchs. „Hinter der Nutzung steckt auch ein jugendtypisches Bedürfnis, unter sich zu sein, sich von Erwachsenen weg zu entwickeln.“ Der problematische Konsum beginnt letztlich dann, wenn alterstypische Entwicklungsaufgaben und -schritte nicht getan werden und freudvolle Lebensanteile immer mehr vom analogen ins digitale Leben verlagert werden, der Schulbesuch unter dem Medienkonsum leidet, soziale Kontakte unwichtig werden.
Ein Hinweis sind auch extreme Aggressionsausbrüche, sobald Eltern auf der Einhaltung einer vereinbarten Internetzeit beharren oder beim WLAN den Stecker ziehen. Im Zuge der stationären Behandlung, die meist einige Wochen dauert, geht es auch darum, hinter der Internetsucht stehende Problematiken zu behandeln: „Welche zugrunde liegende Angststörung oder Depression liegt vor, welche negativen Gefühle gegen die reale Welt lassen Kinder und Jugendliche in die virtuelle Welt ausweichen“, skizziert Sevecke. Während der stationären Behandlung sei es nicht „Sinn und Zweck, dass die Patienten komplett medienfrei sind, das ist Blödsinn“, meint Sevecke. Aber die Mediennutzung sei auf fixe Zeiten beschränkt, auf dem Nachttisch liegt kein Handy.
Medien nicht als Trost und Bindungsersatz einsetzen
Ob Menschen als Jugendliche und später als Erwachsene einen vernünftigen Umgang mit digitalen Medien entwickeln, wird wesentlich von frühen Kindheitserfahrungen geprägt. „Wenn man kleinen Kindern alleine Medien überlässt, würden die von selber nie abschalten. Ihr kleines Gehirn ist im Belohnungssystem noch nicht so weit entwickelt, dass sie das können“, betont Fuchs. Daher ist es besonders wichtig, Kindern Regeln vorzugeben und Stopp zu sagen. Die WHO gibt für Kinder bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr die klare Empfehlung von null Minuten Mediennutzung, bis zum fünften/sechsten Lebensjahr von höchstens einer Stunde pro Tag. Danach werden die WHO-Empfehlungen vage.
Es versteht sich auch, dass die Vorbildwirkung der Eltern von zentraler Bedeutung ist. Wenn Kinder erleben, dass ihnen Regeln vorgegeben werden, sie aber Vater und Mutter permanent online wahrnehmen, wenn Kleinkinder kaum noch unmittelbaren Kontakt zu ihren Eltern haben, weil ständig ein Handy dazwischengeschaltet ist, dann sind Probleme bei den Heranwachsenden vorprogrammiert. „Wenn kleineren Kindern Medien als Trost und Bindungsersatz angeboten werden, hat das massiv schädliche Auswirkungen und diese Kinder haben später ein viel höheres Risiko, keinen kompetenten Umgang mit Medien zu erlernen“, sagt Fuchs. Bemerkenswert ist, dass die erste Studie zur Internetsucht bereits aus dem Jahre 1996 von der US-amerikanischen Psychologin Kimberley Young stammt. Im Mittelpunkt der Studie steht eine junge Frau, die ihre Familie vernachlässigte, weil sie ständig in die Garage ging, von der aus sie ihre Leidenschaft/Sucht des E-Mail-Schreibens auslebte.
Virtual Reality zur Behandlung von ADHS
Beim Innsbrucker Kinder- und Jugendpsychiatrie Kongress ging es auch um Beispiele einer Nutzung von digitalen Medien in der Therapie. Ein in Wien vorangetriebener Forschungsansatz versucht Virtual Reality in der Behandlung von Kindern mit ADHS zu nutzen. Dabei sollen die Kinder in einem digitalen Umfeld lernen, ihre Impulsivität zu kontrollieren oder sich zu entspannen. Fuchs möchte sich künftig an der Haller Kinder- und Jugendpsychiatrie ebenfalls mit diesem Thema beschäftigen. Ein weiterer Schwerpunkt soll dem Medienkonsum von Eltern, der sich vor den Augen der Kinder abspielt, gewidmet sein. Wie sehr unsere Gesellschaft als Ganzes und jeder Einzelne um einen guten, vernünftigen Umgang mit der uns umgebenden digitalen Welt zu ringen hat, illustriert eine Randbemerkung Seveckes: „Wir werden doch alle ein bisschen nervös, wenn das Smartphone nicht in der Nähe ist.“ Ob das auf Dauer gesund ist?
Nachgefragt
Führen gewaltsame Computerspiele zu mehr Aggressivität?
Univ.-Prof. Dr. Kathrin Sevecke: Die Antwort ist eindeutig nein. Allerdings neigen aggressionsbereite Jugendliche stärker dazu, solche Spiele zu spielen.
Unterscheidet sich das Konsumverhalten im Internet zwischen Burschen und Mädchen?
Sevecke: Männliche Kinder und Jugendliche neigen mehr zu Computer- und Rollenspielen, bei den Mädchen steht soziale Kommunikation im Vordergrund. Beide Verhaltensweisen können im Übermaß suchtähnlichen Charakter annehmen.
Kommen in der Therapie der Onlinesucht von Jugendlichen auch Medikamente zum Einsatz?
Sevecke: Eine medikamentöse Behandlung in diesem Zusammenhang gibt es nicht. Bei gleichzeitig stark ausgeprägten Angsterkrankungen oder Depressionen verabreichen wir auch Medikamente.