Wenn Weihnachten wackelt

Der Fall. Sie spazieren vom Christkindlmarkt nach Hause, als Ihnen ein älterer rundlich wirkender Herr in einem opulenten Mantel auffällt, der etwas zu suchen scheint. Wütend und verzweifelt schimpft dieser vor sich her: „Das kann doch nicht wahr sein. Wo sind die nur? Ich habe sie doch hier abgestellt!“ Sie wollen dem alten Herrn helfen und fragen ihn, was er sucht. „Es ist wie verhext seit einiger Zeit. Ständig such ich irgendwas. Jetzt kann ich meinen Schlitten mit Rudi nicht mehr finden. Ich war mir so sicher, dass ich ihn hier abgestellt habe, aber er ist weit und breit nicht zu sehen. Wie soll ich ohne ihn die Geschenke verteilen? Er war immer ein zuverlässiger Gefährte und würde nicht einfach wegfahren oder sich woanders hinstellen. Wo kann der Schlitten nur sein?“ Die Geschichte kommt Ihnen schon sehr merkwürdig vor, aber der Mann wirkt ganz klar und keineswegs betrunken oder sonst wie benommen. Wie gehen Sie weiter vor? Können Sie ihm helfen? (ärztemagazin 12/19)

„Mögliche Ursachen müssen internistisch und neurologisch geklärt werden“

Prim. Univ.-Prof. DDr. Susanne Asenbaum-Nan, MSc MBA
Stv. Ärztliche Direktorin; Neurologie, Landesklinikum Mauer 
LIEBER ALTER BEKANNTER! Die Probleme klingen tatsächlich verhext, aber zunächst würde ich in aller Ruhe die Situation erörtern. Vielleicht liegt ein kleines Missverständnis vor, und Ihr treuer Begleiter ist jetzt in Sorge um Sie. Allerdings häuft sich Ihre Arbeit um diese Jahreszeit, und simple Überlastung und Überforderung – auch in Anbetracht des Alters – wären ein erstes Thema bei einem solchen „Blackout“. Bei plötzlichem Beginn muss aber eine akute Erkrankung sowohl von internistischer als auch von neurologischer Seite in Erwägung gezogen werden und gehört umgehend abgeklärt. Oder haben Sie vielleicht zuletzt neue Medikamente verordnet bekommen? Im Gegenzug lautet die zweite Frage, ob solche Vorkommnisse schon öfters aufgetreten sind und seit wann diese aufgefallen sind.

Haben Sie schon einmal mit Ihrer Familie darüber gesprochen? Bestehen Probleme mit dem (Kurzzeit-) Gedächtnis oder der Merkfähigkeit schon länger, sollte ein Fachmann hinzugezogen werden. Mit speziellen neuropsychologischen Tests muss herausgefunden werden, ob und in welchem Ausmaß Störungen des Gedächtnisses, der Sprache, der räumlichen Orientierung und anderer kognitiver Fähigkeiten vorliegen. Leider können sich Demenzen oder ihre Vorstufe – das „Mild Cognitive Impairment“ – mit ähnlichen Symptomen präsentieren. Wichtig ist der Ausschluss anderer organischer oder psychiatrischer Erkrankungen als Ursache solcher kognitiven Einschränkungen. Aber – zum Trost: Ich denke doch, dass Ihr treuer Begleiter Sie sicher sucht und finden wird, warten doch zurzeit viele Menschen auf Ihren Besuch! Und wer weiß – vielleicht hat Ihr Begleiter einfach auf Sie vergessen!

„Alle Risikofaktoren für eine Prionenerkrankung sind hier gegeben“

Dr. Georg Dirnberger
Neurologe in Wien, neurologe-dirnberger.at 
ES IST WENIG BEKANNT, dass auch Rentiere von einer Prionenerkrankung betroffen sind, der Chronic Wasting Disease (CWD). Vermutlich kann diese besonders kontagiöse Erkrankung – wie die Variante Creutzfeldt-Jakob-Krankheit – vom Tier auf Menschen übertragen werden. Dies geschieht über die hochinfektiösen Prionen, abnorm gefalteten Proteinen, die, vor allem im Gehirn, gesunden Proteinen mit intakter Struktur ihre veränderte Struktur aufzwingen. Die entstandenen pathologischen Prionproteine transformieren immer weitere gesunde Proteine, was zu einer fortschreitenden Degeneration des Gehirns führt. Langer enger Körperkontakt, hohes Alter und lange Auslandsreisen in endemische Gebiete sind wie bei anderen Prionenerkrankungen Risikofaktoren, die hier leider alle gegeben sind – Herr und Tier arbeiten seit Jahrhunderten auf Auslandseinsätzen zusammen. Schlaflosigkeit, Schreckhaftigkeit, nervöse Unruhe und Vergesslichkeit gehen motorischen Symptomen wie Myoklonien und Ataxie voraus, hinzu treten oft schmerzhafte Dysästhesien.

Die rasche Progredienz lässt die Betroffenen schnell dahinschwinden, sodass ich für die kommenden Feiertage schwarzsehe. Zur Abklärung konnte der nüchterne menschliche Patient gleich in einen MR-Schädel-Scan geschoben werden, es fanden sich typische Läsionen im Pulvinar (einem visuellen Thalamuskern); im EEG zeigen sich eher für die sporadische Form der Erkrankung typische okzipitale triphasische Wellen (ebenfalls passend zu visuellen Halluzinationen und räumlicher Desorientiertheit). Wichtig wäre es, die (einzige?) Muttersprache des polyglotten Herrn zu kennen, so können Emotion und Kognition getestet und wo möglich symptomatisch behandelt werden. Der Lumbalpunktion entflohen Herr und Tier leider auf ihrem Schlitten … Selbst als sie zurückkamen, eine kausale Behandlung ist nicht bekannt. Am Ende bot sich eine tiergestützte Therapie an, und Gedächtnistraining mit Rentier- Zählen.

Literatur: Current evidence on the transmissibility of chronic wasting disease prions to humans – A systematic review. Waddell L, Greig J, Mascarenhas M, Otten A, Corrin T, Hierlihy K. Transbound Emerg Dis. 2018; 65: 37-49.

„Sorgfältige neurologische Statuserhebung und Außen- anamnese sind nötig“

Dr. Maryan Czarnecki de Czarnce
Neurologe, Psychiater, Arzt f. Allgemeinmedizin, brain-doc.at 
BEI UNSEREM vermeintlichen „Weihnachtsmann“ besteht offensichtlich eine schwere situative Desorientiertheit. Im Rahmen der weiteren Vorgehensweise ist v.a. auf eine sorgfältige neurologische Statuserhebung und Außenanamnese zu achten. Zeigt der Pat. (auch nur diskrete) Ausfälle wie eine Sprachstörung, Apraxie oder leichte Ungeschicklichkeit an der oberen Extremität? Bestehen Hinweise auf einen Frontalhirnprozess (positiver Palmomentalreflex, aggressives, enthemmtes Verhalten)? Weist der Pat. äußere Verletzungszeichen auf, oder ist es in den letzten Stunden oder Tagen zu einem Sturz gekommen? Bestehen vaskuläre Risikofaktoren? Kam es in den letzten Wochen zu einem operativen Eingriff als Hinweis für ein prolongiertes Delir?

Anhaltspunkte für einen chronischen Äthylismus sind im ggw. Fall nicht vorhanden. Nicht selten sind auch deutlich erhöhte Blutzuckerspiegel (de novo Diabetes), schwere Leber- oder Nierenschäden oder ausgeprägte Elektrolytverschiebungen ursächlich an einer akuten Verwirrtheit beteiligt. Als chronische Ursachen sind kognitive Abbauprozesse in Betracht zu ziehen. Sofern der Pat. eine weitere Untersuchung zulässt, sind obligat ein großes Labor inklusive Vitamin B12/Folsäure und Schilddrüsenparameter durchzuführen. Neben einem Normdruckhydrocephalus (Trias: Gangstörung, Blasenstörung, Demenz) zählt ein Vitamin-B12-Mangel zu den wenigen reversiblen Demenzformen! Ein Minimental/Uhrentest lässt sich als Orientierungshilfe unkompliziert innerhalb weniger Minuten durchführen und kann erste Hinweise auf eine beeinträchtigte Kognition bieten. Bildgebend sollte zumindest eine cCT-Untersuchung, vor allem bei vorangehendem Trauma, durchgeführt werden, wobei als Standard der MRT des Schädels der Vorzug zu geben ist.

Im Anschluss daran sind eine Prophylaxe der (meist) vaskulären Schäden mit Reduktion der Risikofaktoren und weiterführende Untersuchungen sinnvoll. Im aktuellen Fall (Schimpfen, Verlegen von Allltagsgegenständen, Desorientiertheit, ohne Hinweise auf Trauma oder Intoxikation) ist nach Ausschluss der Differentialdiagnosen von einem kognitiven Abbauprozess im Sinne einer Demenz, vermutlich schon im mittleren Stadium, auszugehen. Zur näheren Differenzierung in Demenz vom Alzheimer-Typ, frontale Demenz oder vaskulär-neurodegenerative Mischformen steht eine Reihe von Spezialuntersuchungen zur Verfügung (SPECT/ PET, Genetik, Serologie, …) .