2. Jän. 2020

Alles eine Frage der Zeit

Kai Felmy

Ich grüble gerade über die Bedeutung des Wortes Terminpraxis nach. Bzw. über die unterschiedlichen Möglichkeiten des Verständnisses derselben. Von meiner Seite aus ist die Tatsache, dass wir eine Terminpraxis führen, folgendermaßen gemeint: Die Patienten vereinbaren einen Termin. Selbiger ist je nach Bedarf kürzer oder länger bemessen. Nüchterne Menschen zur Blutabnahme kommen vorzugsweise vor 10 Uhr in der Früh, Pensionisten und Arbeitslose in den späten Vormittagsstunden und Berufstätige am späten Nachmittag und frühen Abend. Vorsorgeuntersuchungen dauern länger als Infektkontrollen, psychische Zusammenbrüche benötigen mehr zeitliche Zuwendung als Grippeimpfungen.

T wie Terminkollisionen

Der Patient äußert seinen Wunsch und meine Assistenten schauen im Kalender, ob sie diesen erfüllen können. Oder alternativ dazu machen meine Assistenten ein Terminangebot und der Patient stellt nach ausgiebiger Durchsicht seines Smartphones fest, ob er jenen Termin wahrnehmen kann. Er sagt dann Ja und in dem Moment, in dem wir ihn eingetragen haben, ändert er ihn noch drei Mal. Glücklicherweise arbeiten wir mit Kalender und Bleistift. Das hat den Vorteil, dass das Teil nicht abstürzen oder sonst irgendwie bocken kann, und Ausradieren geht um ein Vielfaches schneller, als elektronisch hin- und herzuklicken und zu scrollen.

Meine Patienten können sich darauf verlassen, dass ich ihre vereinbarten Termine auch einhalte. Ganz selten kommt es zu Verzögerungen, wenn irgendein Notfall dazwischenkommt, irgendeine persönliche Tragödie Zeit und Geduld erfordert oder ein Computerproblem Nerven kostet. In diesen Fällen sind unsere Patienten dann meist verständnisvoll und geduldig. In akuten Fällen bekommt selbstverständlich jeder noch am selben Tag einen Einschubtermin.

Und da beginnt es kompliziert zu werden. Einschubtermin heißt, dass, sobald Zeit ist, der Patient dazwischen drangenommen wird, und zwar sobald ICH Zeit habe, nicht ER.

Gestern ist Herr G. wutschnaubend abgerauscht nach vierzig Minuten Wartezeit. Denn als er kam, war das Wartezimmer leer und ein Tumorpatient zu einem langen Gespräch bei mir im Sprechzimmer. Währenddessen füllte sich das Wartezimmer und deshalb habe ich die Terminpatienten zuerst abgearbeitet. Inakzeptabel. Offenbar ist dann Zeit für den Einschub, wann er es als Patient passend empfindet. Dafür erscheint er heute, ohne Termin und am Nachmittag zwei Minuten vor Ordinationsschluss. Dass wir Pensionisten am Nachmittag nur in Notfällen nehmen, ist ihm egal. Dass wir Annahmeschluss eine halbe Stunde vor Ordinationsschluss haben, ist ihm wurscht. Es gibt in der Umgebung sicher Kollegen, die bestimmt viel netter sind als ich. Vielleicht rollt ihm ein anderer den roten Teppich aus?

Kürzlich hat mir Herr E. fast die Eingangstüre ausgehängt, so zugeschlagen hat er sie. Ich hatte den Patienten nach ihm zuerst aufgerufen. Diesem musste ich nämlich nur sagen: „BB und Gerinnung passen, alles Gute für die Colo.“ Das wollte ich schnell erledigt wissen, um dann in Ruhe für Herrn E. Zeit zu haben. Sein Pech – hat er sich selbst vermasselt.

Kaputte Zeitumkehrer

Glauben die Leute einfach nur unerschütterlich an die eigene Wichtigkeit oder denken sie, dass ich chronisch zu wenig zu tun habe? Gleich platzt mir der Kragen. Am liebsten würde ich schreien: „Wissen Sie, alle Zeitumkehrer sind in Hogwarts kaputtgegangen beim letzten Kampf gegen Lord Voldemort. Ich kann also die Zeit weder umkehren noch dehnen, und ich kann einer Stunde auch keine hundertzwanzig Minuten sprossen lassen!“

Wenn ich zufällig in der Rezeption bin, mische ich mich auch in die Terminvergabe ein. Heute zum Beispiel Frau B.: „Ich muss einen Termin vor 9 Uhr haben.“ „Geht nicht, denn da mache ich Blutabnahmen und Gesundenuntersuchungen. Und da ich kurz vorm Urlaub bin, ist der Kalender wirklich zugestopft.“ Da fällt mir ein, dass sie mich eigentlich eh nicht mag, und ich schlage ihr vor, dass sie zu meiner Kollegin geht, die mich kommenden Freitag hier vertritt, denn diese liebt sie. „Zur Frau Dr. P. am Freitag um 9.15 könnten Sie kommen.“ Ich bin ein Unmensch. Denn sie kann nur vor 9 Uhr. Sie ist schließlich gehbehindert (fällt beim besten Willen nicht auf) und ab 9 Uhr kann sie nicht mehr gehen. Offenbar legt sich um Punkt neun ein Schalter um und das war’s. Unglaublich. Im Kalender sehe ich, dass sie im Oktober sehr wohl um 10.00 in der Ordi war, da scheint es noch gegangen zu sein. Winterzeit?

Dem gequälten Gesichtsausdruck meiner Assistentin am Telefon entnehme ich ein Problem bei der Verhandlung mit einem Patienten. Herr K.: „Ich muss morgen um 8 Uhr impfen kommen.“ Geht nicht. „Ja, aber um 11:30 kommt mein Enkel aus der Schule!“ (Herr K. reist jedoch nicht aus Laibach an.)

Am Heimweg sehe ich überrascht, wie Herr B., der mit seinen dreißig Lenzen immer gebückt und schmerzgeplagt ins Wartezimmer schleicht und der immer zu arm ist für eine Terminvereinbarung, forschen Schrittes durch die Gasse eilt. Offenbar bemerkt er die trotz Vermummungsverbot mit Schal und Haube verhüllte Haus­ärztin nicht, die ihn dabei sehr erstaunt beobachtet.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune