9. Dez. 2019Leitlinie

Über-, Unter- und Fehlversorgung verhindern

Um Über-, Unter- und Fehlversorgung zu verhindern, hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin DEGAM Empfehlungen zusammengefasst. (Medical Tribune 49/19)

Ein strukturiertes primärärztliches System verbessert nachweislich die Lebensqualität chronisch kranker Patienten. Der medizinische Betrieb in Deutschland ist allerdings anders organisiert: starker Wettbewerb, Fragmentierung und Fokus auf akute Gesundheitsprobleme führen zu Über-, Unter- und Fehlversorgung, kritisiert die DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) in einer neuen Leitlinie zum Schutz vor ebensolchen Problemen.

Evidenz verstehen

Bei chronischen Leiden – verantwortlich für den überwiegenden Teil der Morbidität und Mortalität – brauche es nicht mehr Forschung, sondern ein konsequentes Umsetzen von dem, was längst bekannt ist. Mehr Basics anzuwenden spare Kosten und münde in einer besseren, gerechteren, sicheren und menschenfreundlicheren Medizin. Hausärzte sieht die Fachgesellschaft dabei in einer Schlüsselrolle. Kollegen müssen jedoch lernen, wie man Evidenz versteht und kommuniziert. Nur wer Ergebnisse und Ergebnisunschärfen, aber auch Nutzen, Schaden und Konsequenzen medizinischer Maßnahmen erklären kann, berät seine Patienten gut. Die immer kleinteiligeren Fortschritte in der Forschung und Pseudoinnovationen tragen zu Überversorgung und zu Fehlern bei. Bei interessengeleiteten Informationen fallen Daten zu Schäden oder fehlende Evidenz häufig unter den Tisch. Im Gespräch mit Patienten sollten Sie die Optionen interessenunabhängig benennen.

Tests und Bildgebung

Zu viele nicht indizierte Blutuntersuchungen und zu viel Bildgebung ergänzen die Probleme. Zwei Beispiele: Elf Prozent aller individuellen Gesundheitsleistungen bei den deutschen Nachbarn betreffen die Labordiagnostik, und mit 100 MRT-Untersuchungen pro 1.000 Einwohner liegt Deutschland an der Weltspitze. Das selbsternannte Ziel der DEGAM lautet, zu einem vernünftigeren und weniger ideologiegeprägten Umgang mit den technischen Möglichkeiten beizutragen. In der aktuellen Leitlinie finden sich Empfehlungen zu wichtigen Symptomen bzw. Erkrankungen in der Hausarztpraxis.

Halsschmerzen

Machen Sie den Patienten klar, dass Halsschmerzen meist viral bedingt sind und Antibiotika dann nicht helfen. Bei maximal zwei Centor-Kriterien (Tonsillenexsudate, geschwollene vordere Halslymphknoten, Fehlen von Husten, Fieber in der Anamnese) liegt wahrscheinlich keine Gruppe-A-Streptokokken-Pharyngitis vor – also keine Rachenabstriche, keine Antibiotika!

Husten

Dokumentieren Sie regelmäßig den Raucherstatus (kann als Motivation zur Entwöhnung genutzt werden). Die Dos and Don’ts richten sich nach der zugrunde liegenden Ursache:

  • unkomplizierte akute Bronchitis: keine Antibiotika
  • akuter Husten bei Infekt: keine Expektoranzien (Sekretolytika, Mukolytika)
  • saisonale Influenza: Neuraminidasehemmer nur in Ausnahmefällen (z.B. schwere Immunsuppression)
  • ambulant erworbene Pneumonie ohne Risikofaktoren: 5–7 Tage Antibiose mit Aminopenicillin, Tetrazyklin oder Makrolid

Müdigkeit

Bei primär ungeklärter Müdigkeit sollte ein Screening auf Depression und Angststörung erfolgen und vorherige Infektionen sollten erfragt werden. Weiterführende Diagnostik (Blutdruckmessung, Serumeisen etc.) bietet sich nur bei auffälligen Vorbefunden oder spezifischen Hinweisen in der Basisdiagnostik an.

Brustschmerz

Um die Wahrscheinlichkeit einer KHK einzuschätzen, empfiehlt die DEGAM den Marburger Herz-Score. Raten Sie erst zu einer Koronarangiographie, wenn ein diagnostischer bzw. therapeutischer Nutzen zu erwarten ist.

Demenzen

Bestehen Hinweise auf eine behandelbare Demenz? Dann sollte man die Option einer bildgebenden Diagnostik diskutieren. Grundsätzlich gilt es, auf spezifische Risiken der Familienmitglieder zu achten – es droht Unterversorgung durch Fokussierung auf den Betroffenen. Zu einer geplanten Antidementivatherapie gehört außerdem die Info, dass (laut Arzneimittelrichtlinie in Deutschland) eine Verlaufskontrolle ansteht und diese gegebenenfalls zum Abbruch der Behandlung führen kann.

Alkohol und Depression

Von einem generellen Screening auf schädlichen Alhoholgebrauch wird abgeraten. Die Evidenz ist aus Sicht der DEGAM unzureichend und die Arzt-Patient-Beziehung kann dadurch gefährdet werden. Hingegen sollte man depressive Störungen aktiv explorieren, da Patienten selten von sich aus über Symptome berichten.

Screenings 

Sprechen Sie Patienten nicht aktiv auf eine PSA-Bestimmung an, rät die DEGAM. Wer nach der Früherkennung fragt, sollte über Nutzen, Risiken und Aussagekraft des Ergebnisses aufgeklärt werden. Eine ausgewogene Aufklärung zählt auch beim Hautkrebs-Screening, das laut DEGAM nur im Einzellfall infrage kommt.

Kreuzschmerz

Über die gesamte Behandlungsdauer bedarf es eines medizinischen „Lotsen“ (Hausarzt, Orthopäde o.Ä.), der sämtliche Schritte koordiniert. Fehlen Hinweise auf gefährliche Verläufe oder ernst zu nehmende Pathologien, hat sich die weitere Diagnostik erledigt (keine Bildgebung!). Für die medikamentöse Therapie gilt:

  • keine NSAR parenteral, keine transdermalen Opioide bei (sub)akutem nicht-spezifischem Kreuzschmerz
  • Opioidbehandlung beenden, wenn das vereinbarte Therapieziel nicht erreicht wird
  • keine i.v., s.c. oder i.m. applizierbaren Analgetika, Lokalanästhetika, Kortikoide oder Mischinfusionen bei nicht-spezifischem Kreuzschmerz

Um diese Empfehlungen umzusetzen, eignen sich laut DEGAM Tools in elektronischen Praxisverwaltungssystemen. Diese sollten jedoch darauf ausgelegt sein, z.B. vor Interaktionen zu warnen oder Multimorbide als potenzielle Risikopatienten zu kennzeichnen. Als eine Art Checkliste gegen das Vergessen wichtiger Schritte interpretiert die Fachgesellschaft die Dokumentation von DMP: Das Abarbeiten solcher Checklisten bilde den Kontrapunkt zum heroischen Selbstbild des Arztes alter Schule, der allein mittels Erfahrung und Intuition stets das Richtige zu tun glaubte.

S2e-Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung“, AWMF-Register-Nr. 053-045, www.awmf.org

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune