20. Mai 2019

The Sound of Silence

Letztens habe ich eine Patientin akupunktiert. Als sie dann bequem und mit allen notwendigen Nadeln gespickt auf der Liege liegt, decke ich sie mit einem Tuch zu und wünsche ihr gute Entspannung. Dann will ich das Zimmer verlassen, als sie meint: „Mei, können Sie mir noch mein Handy hergeben, dann kann ich inzwischen was lesen.“ Das ist mir auch noch nicht passiert. „So so, lesen. Möchten Sie vielleicht auch gleich noch ein bissi was arbeiten, ein paar Mails beantworten oder so?“

Dem Schweigen entnehme ich, dass ich richtig liege. „Nö. Hier wird nicht gelesen und schon gar nicht gearbeitet!“ Die Dame leidet unter Migräne, Schlafstörungen und noch ein paar Dingen, die ganz gut dazu passen. Sie ist eine sehr sympathische, energiegeladene und fleißige Frau, unheimlich gut organisiert und durchgeplant. Ich mag sie gerne. Aber erweichen lasse ich mich trotzdem nicht. Grausam, wie ich bin, lasse ich sie jetzt mit sich alleine. Kein Smartphone und auch keine Musik. Nicht einmal was Sanftes, Meditatives. Nur sie und ein paar Hintergrundgeräusche von draußen. Natürlich schaue ich immer wieder mal nach, wie es ihr geht. Nach der Hälfte der geplanten Zeit ist sie durch und will die Nadeln loswerden. Kein Problem. Ich ziehe die Dinger und verordne ihr einen ruhigen Abend. Mittlerweile haben wir ein paar Sitzungen hinter uns gebracht.

Die Migräne ist fürs Erste weg, und als ich heute zum Nadelziehen ins Zimmer schleiche, gähnt sie mich an: „Ma, jetzt bin ich eingeschlafen. Ich bin sooo entspannt.“ Das Smartphone schafft es mittlerweile nicht mehr aus der Handtasche heraus. Es vibriert auch nicht mehr ärgerlich im Beutel. Es ist einfach ausgeschaltet. Als die Mobiltelefone erfunden wurden, war das eigentlich eine Revolution. Eine richtige Befreiung. Man musste nicht mehr irgendwo an einer Strippe hängen, um erreicht zu werden. Man konnte sich frei bewegen und trotzdem tun, sagen und erledigen, was nötig war. Wir hatten wirklich gute Geister in unseren Diensten. Doch wie heißt es schon bei Goethes Zauberlehrling: „Die Geister, die ich rief, werd ich nun nicht mehr los.“ Und diese Geister haben unser Leben innerhalb kürzester Zeit umgekrempelt.

E wie Erreichbarkeit

Immerwährende Erreichbarkeit mag zwar beruhigend sein, wenn es um die alten Eltern geht. Wenn aber der Chef darauf besteht, wird die Sache plötzlich nicht mehr so prickelnd. Immerwährende Beschäftigung ist cool. Niemand muss sich mehr langweilen. Schon Babys sind Smartphone-User. Bunte Bildchen und Quietschetöne sind rund um die Uhr verfügbar. Langeweile ist ein Fremdwort für Kinder und Jugendliche. Blöd nur, dass Langeweile auch eine Voraussetzung dafür ist, kreativ zu werden. Nur wenn einem fad genug ist, überlegt man sich, endlich was dagegen zu tun. Aber das ist nicht mehr nötig. Denn wir können immerwährend chatten, streamen, whatsappen, spielen oder Selfies posten. Wir bleiben unterhalten und beschäftigt vom ersten wachen Augenblick des Tages bis zum letzten. Immerwährend erreichbar und beschäftigt und in immerwährender Geschäftigkeit kleben wir am Bildschirm. Die Geister, die uns hätten dienen sollen, lachen sich gerade kaputt. Längst sind sie nämlich unsere Herren und wir ihre Sklaven.

Entzugserscheinungen

Und was passiert, wenn man diese Geister zumindest vorübergehend einmal loswerden möchte? Panik und Entzugserscheinungen bis hin zu diesem amputierten und verlassenen Gefühl, plötzlich alleine und in Stille ohne Ablenkung zu sein! Bis vor einigen Jahren hatten wir auf der Hütte keinen Handyempfang und auch kein Internet. Jetzt steht am Hügel gegenüber ein Handymast und wir haben ein mobiles WLAN. Früher musste ich ganz rauf auf den Hügel klettern, um irgendwie mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Was mir sehr stille Stunden einerseits und eine sehr gute Kondition andererseits beschert hat. Jetzt ist alles ganz easy. Und die Geister, die ich rief, fahren mit ins Wochenende oder in den Urlaub. Kürzlich hatte ich einen Artikel geschrieben (nicht für die MT oder Ärzte Steiermark) und fünf Minuten vor dem Wegfahren war die erste Korrekturversion in meiner Inbox. Ich war grantig, ich war müde und nahm an, dass ich mich nach dem Wochenende um die Bearbeitung kümmern könnte.

Selbiges tat ich auch kund mit den Worten: „Vielen Dank fürs Mail – bin gestresst, überarbeitet, völlig hirntot und in zehn Minuten im Urlaub. Melde mich nach dem Wochenende mit konstruktiven Vorschlägen.“ Zurück kam, dass mein Hirn morgen ja wohl erholt genug sein würde, dass es wieder funktioniert. Und da ich ja im Urlaub bin, habe ich ja sicher auch die Zeit für die Bearbeitung. Natürlich habe ich mich darum gekümmert, immerhin bin ich verantwortlich für mein Geschreibsel, und außerdem ist mir klar geworden, dass mein Gegenüber Dinge wie Urlaub, Pause, Abschalten, Nichterreichbarkeit nicht in seinem Repertoire hat. Vielleicht ist er ja auch einer von denen, die keine Auszeit brauchen? Ich für meinen Teil brauche jedenfalls zwischendurch Leere, etwas Langeweile und den Klang der Stille.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune