Über Nacht geschwollene Beine und Lider
Der Fall. Herr K. kommt mit seinem Sohn Peter (5 Jahre) zu Ihnen, weil er seit gestern so stark geschwollene Lider hat. „In der Früh sind mir nun auch die dickeren Beine bei Peter aufgefallen, das hatte er gestern sicher noch nicht! Die Lider sind auch noch nicht besser geworden, eher schlechter. Das kommt mir doch alles komisch vor.“ Seit ca. 1 Woche hat Peter eine Bronchitis und inhaliert regelmäßig mit Sultanol, darunter habe sich die Symptomatik deutlich gebessert. Die klinische Untersuchung zeigt bis auf deutliche Lidödeme beidseits und leicht geschwollene Beine beidseits keine gröberen Auffälligkeiten. Cor und Pulmo: bland, Abdomen: deutlich gebläht, weich, keine Auffälligkeiten, Labor: CRP 0mg/dl, BB unauff. Harn: Leukos neg., Erys +, Nitrit neg., Protein ++. Welche Verdachtsdiagnose haben Sie und wie gehen Sie weiter vor? (ärztemagazin 5/19)
„Typisch für die 2MCGN ist der Beginn an den Augenlidern“
Dr. Claudia Wainke
Ärztin für Allgemeinmedizin, Gesundheitszentrum Wien Süd der WGKK
KLINIK UND Anamnese passen recht spezifisch zum nephrotischen Syndrom und lassen mich ob des passenden Alters vorrangig an die vergleichsweise häufige kindliche Minimal-Change-Glomerulonephritis (MCGN) denken, die meist gutartig verläuft. Die von Peter präsentierten Ödeme, interstitielle Flüssigkeitsansammlungen, entstehen dabei infolge des renalen Proteinverlustes durch Verschiebung des osmotischen Drucks. Typisch ist der Beginn an den Augenlidern. Ich teile nach Sichtung der Blut- und Harnbefunde Herrn K. meine Vermutung mit – und in kindgerechter Sprache auch Peter –, um Verständnis für die empfohlenen Schritte zu gewinnen. Ich erkläre, dass eine stationäre Aufnahme an einer spezialisierten Klinik unumgänglich scheint.
Es gilt die meist symptomatisch zu behandelnde geäußerte Verdachtsdiagnose von selteneren Erkrankungen des Nierenparenchyms abzugrenzen, darunter solche immunologischer Genese, auf die mit immunsuppressiver Therapie reagiert werden müsste. Angesichts der renalen Funktionseinschränkung ist rasch und umfangreich zu reagieren, um eine möglichst komplette Remission zu erreichen. Letztlich führt der Proteinverlust potenziell zu systemischen Komplikationen, darunter eine erhöhte Infektanfälligkeit durch Verlust von Immunglobulinen und eine gesteigerte Thromboseneigung durch Mangel an Antithrombin-III. Ein weiterer Grund für einen stationären Aufenthalt wäre, sollte sich die MCGN bestätigen, Allergien und Malignome als Ursache alternativ zur idiopathischen Form auszuschließen. Die Anamnese (Bronchitis) lässt aber eine infektiös mitbedingte Genese vermuten. Nach einem wie erwartet unauffälligen Nierenultraschall, um postrenale Ursachen auszuschließen, erkundige ich mich noch nach Medikamenteneinnahme und Harnverhalten. Folglich leite ich umgehend eine stationäre Aufnahme zu Diagnostik und Kontrolle ein.
„Eine rasche Klärung bezüglich akuten Nierenversagens hat Priorität“
Dr. Alfred Wassermair
Arzt für Allgemeinmedizin, Umweltschutzarzt; Tauchmedizin, Hypnotherapie; www.wassermair.at
DIE FÜR EIN KIND dieses Alters beunruhigende Ödembildung korreliert in erster Linie gut mit den Symptomen eines akuten Nierenversagens. Deshalb hat eine rasche Klärung absolute Priorität und differentialdiagnostische Erwägungen sind hintanzustellen, bis diese Diagnose falsifiziert oder verifiziert ist. In den meisten Fällen beginnt ein akutes Nierenversagen mit unspezifischen Krankheitszeichen. Die Symptome der Grunderkrankung, etwa eine Infektion, stehen im Vordergrund. Erst nach einiger Zeit vermindert sich die Harnproduktion. Es kommt zu Wassereinlagerungen im Gewebe, vor allem in den Beinen, später auch in der Lunge.
Ob dies eventuell schon die Ursache für die Atemnot war, die dann mit Sultanol behandelt wurde, bleibt vorerst offen, obwohl eine Besserung erfolgte. Ein akutes Nierenversagen kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen. Neben der Basisdiagnostik – hier Kreatinin, GFR, Elektrolyte und Ultraschall der Nieren, um eine postrenale Ursache auszuschließen – muss man sich auf die Suche nach der konkreten Ursache machen. Für ein hämolytisch urämisches Syndrom, das bei Kindern eine der häufigsten Ursachen für ein ANV ist, gibt es weder anamnestisch noch auf Grund des normalen Blutbildes einen Verdachtsmoment. Ein vermuteter viraler Infekt (Bronchitis) kommt in Frage. Auch eine genaue Medikamentenanamnese ist erforderlich. Salizylsäure, Antibiotika, NSAR – eine Medikation, z.B. mit antipyretischen Medikamenten (z.B. Naproxen), durch die Eltern würde ich nicht von vorneherein ausschließen.
Die Liste der potenziellen Ursachen für ein Nierenversagen ist lange und wahrscheinlich handelt es sich in den meisten Fällen um ein multifaktorielles Geschehen. Die weitere Abklärung sollte aber unbedingt im Rahmen einer stationären Überwachung mit Monitoring der Flüssigkeitsbilanz, der Urinausscheidung und der Harnstoff-, Serumkreatinin- und Elektrolytwerte erfolgen. Zusätzlich wird man Entzündungsdiagnostik, Immunkomplexe, Antikörper und Autoantikörper etc. abklären müssen. Als Hausarzt bleibt mir hier nur die rasche Hospitalisierung in einer nephrologischen Fachabteilung.
„Eine Remission lässt sich in mehr als 90 Prozent der Fälle erzielen“
Prim. MR Dr. Helmuth Howanietz
Leiter von www.kizaugarten.at, 1020 Wien
MEINE DIAGNOSE IST das Nephrotische Syndrom (NS), Synonym: Minimal-Change-Nephritis. 75 Prozent der Neuerkrankungen treten vor dem vollendeten 6. Lebensjahr auf bei einem Altersgipfel zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr, Knaben sind etwa doppelt so häufig betroffen, familiäre Häufungen sind beschrieben. Auslösend für einen Erstschub sind sehr häufig banale Infekte der oberen Atemwege, aber auch Allergien oder lokale Infektionen können Ursache sein. Klinisch stehen Ödeme und hier Lidödeme im Vordergrund, die im Harn durch eine entsprechende Proteinurie (Albuminurie) diagnostizierbar sind, Hämaturien oder Leukozyturien fehlen meist.
Der Blutdruck ist normal und serumchemisch fallen lediglich die Hypalbuminämie und dadurch bedingte Hyperlipidämie auf. Die Nierenfunktion ist im Allgemeinen nicht beeinträchtigt, lediglich lässt sich durch den Eiweißverlust eine gewisse Infektanfälligkeit attestieren. Auch der Elektrolythaushalt ist anfangs nicht betroffen, der durch die Ödeme bedingte Anstieg der Hämokonzentration kann aber in weiterer Folge zu erhöhter Neigung von Thromboembolien führen. Abzugrenzen vom NS sind häufige Formen der Glomerulonephritis sowie die fokal-segmentale Glomerulosklerose nur durch die Feinnadelbiopsie. Sonographisch lassen sich zu Beginn – wenn überhaupt – geringgradige Parenchymverdichtungen erkennen, diese sind jedoch nicht eindeutig dem NS zuzuordnen. Die Behandlung sollte mit Prednisolon per os erfolgen in einer Dosierung von 60mg/ m² Körperoberfläche auf drei Dosen aufgeteilt für 4 Wochen, danach alternierend reduziert auf 40mg/m² KO jeden zweiten Tag in einer Einzeldosis morgens auch für 4 Wochen.
Spätestens durch die Behandlung mit Prednisolon lässt sich ein steroidabhängiges von einem steroidresistenten NS unterscheiden. Grundsätzlich sind Steroidresistenzen bei der Minimal-Change-Nephritis extrem selten und lassen zumeist das Vorliegen anderer Nierenerkrankungen vermuten, diese wenigen sprechen aber dann auf Cyclophosphamid per os sehr gut an und lassen so eine Remission bis zu mehr als 90% erzielen. Spezielle Diäten – wie sie ursprünglich zur Behandlung der Ödeme und des Eiweißmangels empfohlen wurden – sind aus heutiger Sicht ohne den erwarteten Benefit, die Kinder sollen an und ab den Harn auf Eiweiß kontrollieren und sonst auch hinsichtlich der erhöhten Thromboembolieneigung ein möglichst normales, körperlich aktives Leben führen.