Requiem für den gesunden Menschenverstand
Unsere Patienten heutzutage sind ja alle viel mündiger geworden als die Generationen davor. Sie haben zwar nicht Medizin, dafür aber Google studiert. Und deshalb wissen sie auf jeden Fall besser als wir, was ihnen fehlt. Und nicht nur, was ihnen fehlt, sondern auch, welche möglichst exotischen und kostenintensiven Untersuchungen einzuleiten wären (und zwar sofort) und was therapeutisch zu tun ist beziehungsweise was vom Hausarzt sicher nicht zu tun ist – der ist ja schließlich nur Allgemeinmediziner. Es gibt bestimmt irgendwo eine Fachabteilung oder einen Professor, deren Spezialisierung oder dessen Kompetenz besser wirken als eine vom niedrigsten Medizinwesen verordnete Therapie.
Es ist nicht immer einfach, als Hausärztin zum Patienten durchzudringen. Zum Beispiel, dass bei einem Knieschmerz ohne Trauma, dafür aber mit Senkfüßen und muskulären Dysbalancen, Schuheinlagen und Muskeltraining, am besten angeschlossen an eine initiale Physiotherapie, helfen werden. Und dass wir bitte die Rheumaambulanz und die Schmerzambulanz mit allen ihren Spezialisten und Koryphäen den Patienten überlassen, die das wirklich brauchen. Davon gibt es nämlich ausreichend, wie uns die Wartelisten zeigen. Meistens kann ich mich meinen Patienten gegenüber ganz gut durchsetzen und sie geben zumindest vor, mit Abklärung und Therapie einverstanden zu sein. Bei den Kontrollen freue ich mich dann immer über die, die compliant waren. Deren Problem ist meist gelöst. Wenn doch nicht, dann schauen wir beide weiter oder sie werden weiterüberwiesen. Manchmal sogar zum Herrn Professor.