27. März 2019

Rosa Plüschzeitgeist in der Kuschelzone

Vor einiger Zeit bin ich über ein Posting auf Facebook gestolpert. Es war ein Bericht über den Holocaust und selbiger war dutzende Male kommentiert worden. Gleich der erste Kommentar lautete ziemlich wortgenau: „Könnt ihr nicht endlich aufhören mit dem Scheiß? Das ist ja sowas von nicht Zeitgeist! Das interessiert heute echt niemanden mehr.“ Dieser Kommentar begleitet und beschäftigt mich nun schon seit Monaten. Und er erschüttert mich immer noch genauso wie beim ersten Mal lesen. Ich möchte antworten: Wenn man so anschaut, wie an allen möglichen Ecken und Enden unseres Planeten fröhlich Genozid betrieben wird, finde ich, dass Völkermord sehr wohl im Trend liegt und extrem Zeitgeist ist. Er ist sogar mordsmäßig angesagt, oder?

V wie Verantwortung

Mittlerweile brauchen wir keinen Psychiater mehr, der uns klarmacht, dass die Dinge, die verdrängt werden, nicht einfach von selbst wie durch Zauberhand verschwinden. Und deshalb die Gefahr von Wiederholungen besteht. Halten wir uns für immun gegen diese Gefahr und brauchen deshalb kein Gedenken mehr? Oder ist es vielleicht eher eine drohende unterschwellige und unbequeme Einsicht, dass die Geschehnisse von damals heute wieder passieren (können)? Und unbequeme Einsichten oder grausame Realitäten sind wirklich nicht Zeitgeist. Sie passen nicht in unser Weltbild und in unsere Erwartung vom Leben.

An amerikanischen Universitäten werden „Kuschelzonen“ diskutiert, in denen die Studenten ihre arme Psyche pflegen können, wenn der Lernstoff zu furchtbar für sie war. Irgendwann geht man sicher noch einen Schritt weiter und nimmt so böse Dinge wie Vergewaltigung und Mord aus dem Lehrplan für zukünftige Juristen, damit ihre Seelchen keinen Schaden nehmen. Und vielleicht erspart man den Geschichtestudenten dann auch Krieg und Gemetzel. Alles Böse wird möglichst weit weggeschoben und verdrängt in der Hoffnung, dass es dadurch verschwindet. Und wir kuscheln in einer rosaroten Plüschblase. Wenn die Menschen dadurch glücklich und angstfrei würden, dann hätte der rosarote Plüschzeitgeist wenigstens einen Sinn.

Aber wenn man so den Bedarf an Psychotherapie und Psychopharmakatherapie beachtet, scheinen Ängste, Sorgen und Unsicherheiten die Menschen mehr zu plagen denn je. Also taugt verdrängen und in der Kuschelzone hocken offenbar nicht zum Glücklichsein. Und warum dieses Thema gerade heute? Kürzlich fand ich eine Rezension zu meinem ersten Buch im Netz. An dieser Stelle ein Danke an den mir unbekannten Verfasser für die Inspiration. Dass das Buch ganz furchtbar ist, tut mir natürlich leid für ihn (oder sie?) und um seine Zeit, die er mit Lesen vergeudet hat. Er hat genau aufgezählt, was inhaltlich so mangelhaft sei, und am schlimmsten für ihn war, dass ich dann auch noch über Flüchtlinge usw. schreibe. Das sei überhaupt nur mehr peinlich.

Wirklich peinlich

Ja, das Thema ist peinlich, das stimmt. Es ist peinlich, wie wir als eines der reichsten Länder dieser Erde damit umgehen, wie wir von Anfang an die Chance auf Integration versemmelt haben. Es ist peinlich, wie jetzt diese Menschen, die alles in ihrem Leben verloren haben, zu Sündenböcken gemacht werden für alles Mögliche, das schiefläuft. (Wer war eigentlich vorher schuld an allem, bevor wir die Flüchtlinge hatten?) Es ist peinlich, wie versucht wird, sie als Verursacher horrender Kosten in unserem System anzuprangern, während nicht einmal still und leise und schon gar nicht heimlich eingespart wird bei Sozialleistungen, bei Hilfe und Förderung für genau die, die sie brauchen würden. Und Erleichterungen an Gutverdiener und Großkonzerne verteilt werden.

Es ist nicht nur peinlich, sondern eigentlich unsagbar und unfassbar, wenn ganz offen diskutiert wird, ob man Kinder einfach im Mittelmeer ersaufen lassen soll. Und wenn Hilfsorganisationen zu Kriminellen gemacht und unsere Kollegen von „Ärzte ohne Grenzen“ als Schlepper beschimpft werden. Es ist peinlich, Ausreisezentren zu schaffen. Ein Wort, das suggeriert, dass es hier um Urlaub oder Kreuzfahrten gehen würde. Es ist nicht mehr nur peinlich, darüber nachzudenken, ob man Menschen gleich präventiv wegsperren sollte, weil sie irgendwann vielleicht ein Verbrechen begehen könnten. Spätestens da sollten wir nachdenken, und alle Alarmglocken müssen schrillen. Ein Leser hat mir mal geraten, das Denken anderen zu überlassen (ein sicher gut gemeinter Rat zu einer weit verbreiteten Praktik, der ich persönlich jedoch nichts abgewinnen kann).

Ich sollte mich auf mein Kerngebiet, nämlich Ärztin zu sein, zurückzuziehen. Aber genau das tue ich ja! Als Ärzte haben wir einen Eid geleistet zu helfen und zu beschützen. Als Ärzte haben wir Hirn, gute Bildung, ein schönes Einkommen und dadurch eine große Verantwortung. Nämlich die, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und uns auch unbequeme Gedanken zu machen. Ich will keinen rosaroten Plüschzeitgeist. Und ich will nicht aufhören zu denken und auch nicht aufhören zu schreiben. Und ich werde auch nicht aufhören, dabei für manch einen peinlich zu sein. Versprochen!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune