25. Feb. 2019

Auf der Suche nach dem perfekten Leben

Sehen Sie gerne fern oder gehen Sie gerne ins Kino? Wenn ja, dann sehen Sie sich doch mal eine dreißig oder fünfzig Jahre alte Produktion an und vergleichen Sie mit einem aktuellen Film. Und dann schauen Sie, was in diesen Jahrzehnten passiert ist. Und damit meine ich nicht die technischen Fortschritte, die besseren Farben und runder laufenden Bilder oder dass die wilden Stunts heutzutage zu einem Großteil computergeneriert sind. Nein, sehen Sie sich doch einmal die Menschen an. Da gibt es Schauspieler, die haben schiefe Zähne oder dünne Beinchen. Und statt des nichtvorhandenen „Sixpacks“ wird der Bauch eingezogen. An den Körpern mancher Schauspielerinnen auch aus Hollywood sieht man glatt so etwas wie Bauchfett zwischen den Knochen. Und diese Zähne! So wie Gott sie hat wachsen lassen! Die Zähne sind für mich das Schlimmste.

O wie Optimierungswahn

Eigentlich ist das aber voll krank! Normal sind nicht mehr die verschiedenen Gesichter und Körper mit ihren Eigenheiten und Besonderheiten. Normal sind anorektische sogenannte Traummaße, regulierte und gebleichte Zähne oder überhaupt gleich Veneers, unterspritzte Lippen, aufgeblasene oder aufgespritzte Muskeln und das alles mit einem Touch Bildbearbeitung überzogen. Und zusätzlich sind diese schönen Menschen ja alle so fit und gesund, die Ladys haben drei Wochen nach der Entbindung wieder Idealgewicht, welches sie selbstverständlich ganz easy und fast ohne besondere Anstrengung erreicht haben, und die Herren strotzen vor Kraft und Lebensfreude. Und alle strahlen uns mit ihren weißen Zähnen an und sind ganz glücklich in ihrem perfekten Leben. Und ganz ähnlich läuft das auch in der Medizin. Heutzutage ist es nicht mehr ausreichend, einfach nicht krank zu sein. Wir wollen das umfassende körperliche und psychosoziale Wohlbefinden für uns. Ist ja schön, aber auf der anderen Seite ein bisschen hochgegriffen, oder?

Training, Diät und Botox

Es ist nichts Falsches daran, sich hohe Ziele zu stecken. Wenn man durch ihre Unerreichbarkeit nicht unglücklich wird. Und wenn nicht auf der Suche nach dem perfekten Leben das ganz normale auf der Strecke bleibt. Und nicht nur in Bezug auf Schönheit, Körperfettgehalt oder Trainingszustand kann es sein, dass man da jahre- oder jahrzehntelang einem Ideal hinterherrennt. Nur um irgendwann zu merken, dass man es nie erreichen wird, und dann auch noch feststellen muss, dass man es vor lauter Training, Diät und Botox verabsäumt hat, mit Freunden gemütliche Abende zu verbringen, mit der besten Freundin zu viel Prosecco zu trinken oder mit dem Liebsten ein romantisches Fünf-Gang-Dinner zu verputzen und nicht nur davor zu sitzen und darin herumzustochern.

Vielleicht ist aber auch zu viel Zeit verstrichen auf der Suche nach dem perfekten Liebsten. Und während der Suche nach dem perfekten Leben ist das echte einfach verflogen. Ähnliches gilt natürlich auch für den perfekten Job, das perfekte Einfamilienhaus und natürlich die perfekten Kinder. Aber zurück zum Kranksein. Oder besser gesagt zum „eigentlich eh nicht krank sein“. Vor mir sitzt ein kerngesunder Dreißigjähriger. Er hat einen schönen trainierten Körper, macht viel Sport, und man möchte meinen, dass es ihm gut geht. Tut es objektiv gesehen auch. Subjektiv allerdings fühlt er sich fürchterlich. Die Werte der gerade durchgeführten Lungenfunktion sind zwar über 100 Prozent, aber er ist ein Opfer des Grazer Feinstaubs.

Den es ja auch wirklich gibt und der nicht bekömmlich ist. Das wissen wir alle. Aber er leidet so eloquent darunter, dass mir der Geduldsfaden reißt und ich antworte: „Seien Sie froh, dass wir in Graz wohnen. Haben Sie schon mal probiert, in einer Stadt mit wirklich schlechter Luft zu atmen?“ Jeder, der mal versucht hat, z.B. in Mexiko City tief Luft zu holen, weiß, wovon ich spreche. Er weiß es nicht. Und so geht es weiter. Tag der multiplen Befindlichkeitsstörungen. Unmengen von Blähungen, Ziehen im Muskel und Ziepen in irgendwelchen Gelenken, unsichtbaren Hautveränderungen. Sozusagen vom Haarspitzensausen bis zum Zehennägelkringeln. Unendliche Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und Klage.

Und das Leben verstreicht

Und wir Ärzte bedienen diesen Markt auch noch sehr gut. Was kann man nicht alles testen, von Vitaminmängeln bis Dysbalancen in der Darmflora. Von kinesiologischen Defiziten bis zum Yin-Yang-Ungleichgewicht der TCM. Es gibt garantiert immer irgendetwas, das nicht stimmt, das beobachtet, diagnostiziert, therapiert und kontrolliert werden kann. Und womit sich gesunde Menschen im Handumdrehen krank fühlen können. Und nicht mehr froh sind, dass sie an nichts Ernsthaftem leiden, sondern weiter und weiter suchen nach dem perfekten medizinischen Gleichgewicht für ihre Körper. Niemand freut sich, dass er in der Früh einfach aufstehen kann. Es gibt keine zufriedene Sattheit mit den Nahrungsmitteln, die man gut verträgt, und keinen Spaß an den Sportarten, die dem Körper guttun. Es gibt nur die Suche nach der weiteren Optimierung des Wohlbefindens. Und währenddessen verstreicht unaufhaltsam das ganz normale Leben.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune