Früherkennung von Entwicklungsstörungen dank Exom-Sequenzierung
Bei einem auffälligen Ultraschallbefund wollen Eltern genau wissen, was auf sie zukommt. Die Exom-Sequenzierung kann bei strukturellen Anomalien im Ultraschall genetische Ursachen auch dann aufspüren, wenn konventionelle diagnostische Methoden versagen, wie zwei aktuelle Studien zeigen.
Bei zirka drei Prozent aller Schwangerschaften werden bei einem Routine-Ultraschall fetale Anomalien entdeckt. Diese können das Herz, das Gehirn, das Skelett oder mehrere Organe gleichzeitig betreffen; oft haben sie schwerwiegende Konsequenzen wie Herzfehler, Entwicklungsverzögerungen oder geistige Behinderungen. „Große“ genetische Veränderungen wie Aneuploidien oder Veränderungen der Kopienzahl (Copy Number Variations) werden mittels Standardmethoden (wie etwa der quantitativen Fluoreszenz-PCR oder der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung) zumeist erkannt. Kleinere Veränderungen, die sich in pathogenen Genvarianten äußern, werden allerdings mit dem derzeit gültigen Standardverfahren der Microarray-Technologie nur bei 10 bis 20 Prozent der Kinder mit auffälligem Ultraschall und normalem Karyotyp entdeckt. Bei 80 bis 90 Prozent der Kinder mit normalem Karyotyp ist die genaue Ursache für strukturelle Anomalien also unbekannt.
Eine Ende Jänner 2019 in The Lancet (Impact Factor 53,3) publizierte Studie1 zeigt, dass die Exom-Sequenzierung (Whole Exome Sequencing) die Diagnose von Föten mit strukturellen Anomalien erleichtern kann. Die britischen Wissenschaftler konnten bei 8,5 Prozent der Föten, bei denen derzeit gültige genetische Standardverfahren ausgeschöpft waren, die genetische Ursache finden; ohne diese Informationen wären die jeweiligen Diagnosen zumeist erst nach der Geburt möglich gewesen.
Test fand Defekte bei 8,5 Prozent der Feten mit unerklärten Fehlbildungen
Die prospektive Kohortenstudie Prenatal Assessment of Genomes and Exomes (PAGE) wurde von britischen Wissenschaftlern an 34 Zentren durchgeführt. Eingeschlossen wurden Schwangere mit Auffälligkeiten im Ultraschall – wie Nackentransparenz oder strukturelle Anomalien –, die sich für weiterführende Untersuchungen einer DNA-Biopsie unterzogen hatten (etwa durch Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie). Föten mit bestätigten Aneuploidien und Copy Number Variations waren ausgeschlossen. Das Team sequenzierte daraufhin die Exome von 610 Babys. Die gefundenen genetischen Varianten wurden im Anschluss nach Frequenz, Vererbungsmuster und Effekt auf Proteine gefiltert, 321 Varianten (die für 255 genetische Krankheiten verantwortlich sein können) wurden als potenziell pathogen eingestuft. Im Anschluss legte ein multidisziplinäres klinisches Komitee fest, welche Mutationen als kausal oder pathogen eingestuft werden sollen.
Die Forscher schafften es, bei 52 der 610 Kinder – also 8,5 Prozent – eine genetische Ursache für ihre strukturelle Anomalie zu identifizieren. Bei 24 (3,9%) zusätzlichen Föten wurde Genvarianten entdeckt, die zwar nicht direkt für eine vorliegende Anomalie verantwortlich sein können, aber eventuell prognostische Relevanz haben. Zusammengenommen wurden also klinisch relevante Varianten bei 12,5 Prozent der Embryonen gefunden.
Mehr Klarheit für Eltern und Ärzte
Durch die Exom-Sequenzierung konnte häufig zwischen Defekten in einem einzigen System, wie kongenitale Herzdefekte, oder Anomalien mit syndromischer Beteiligung (z.B. kongenitale Herzdefekte mit Lernbehinderung) unterschieden werden. Genetiker und Studienautor Dr. Matthew Hurles vom Wellcome Sanger Institut kommentiert die Ergebnisse so2: „Zuverlässige genetische Tests können die zugrunde liegende Ursache von am Ultraschallbild entdeckten Problemen finden und Familien dadurch eine klarere Antwort zum Gesundheitszustand eines Kindes geben.“ So können beispielsweise strukturelle Herzfehler, die im Ultraschall entdeckt werden, oft leicht korrigiert werden. Ihnen können aber auch komplexere Ursachen zugrunde liegen, die zum Beispiel auch die neurologische Entwicklung von Kindern beeinträchtigen können.
Die Studienautoren hoffen nun, dass der genetische Test künftig breit implementiert wird, um die Ursache von fötalen strukturellen Anomalien unbekannter Ursache besser abzuklären.2 Dieser könnte nicht nur helfen, Kinder mit genetischen Erkrankungen besser zu diagnostizieren, sondern auch, das Risiko für künftige Schwangerschaften vorherzusagen. Jane Fisher, die Leiterin der britischen Stiftung für Schwangerschaftsberatung, befürwortet daher den Einsatz des Tests2: „Wenn werdende Eltern erfahren, dass sich ihr Kind nicht so entwickelt wie erwartet, sind sie meist geschockt und haben Angst vor den möglichen Folgen. Ein genetischer Test kann helfen, ihnen wichtige Informationen über die Prognose ihres Babys zur Verfügung zu stellen, und ob sie in künftigen Schwangerschaften eine ähnliche Situation erwartet.“ Bei den meisten in der Untersuchung gefundenen Erkrankungen bestand ein geringes Risiko, sich in künftigen Schwangerschaften zu wiederholen.1
Test selektiv einsetzen
Besonders häufig konnten genetische Defekte bei Kindern entdeckt werden, die multiple Anomalien (22 von 143; 15%) sowie Anomalien im Herzen (9 von 81; 11,1%) oder am Skelett (10 von 65; 15,4%) aufwiesen. Bei Föten mit Nackentransparenz waren die diagnostischen Genvarianten am seltensten (3 von 93 Föten, 3,2%). Diese Entdeckung weist darauf hin, dass der Test für einige Anomalien besonders geeignet wäre.
Die Forscher empfehlen in ihrem Manuskript daher, Schwangere vor der Untersuchung zuvor sorgfältig zu selektionieren, um den klinischen Nutzen zu maximieren. „Da die Pränataldiagnose mit praktischen, diagnostischen und ethischen Herausforderungen verbunden ist, sollte die genomweite Sequenzierung für fötale strukturelle Anomalien am besten ausgesuchten Subgruppen (zum Beispiel jene mit multiplen kongenitalen Anomalien) oder nach Anwendung genetischer Marker beschränkt sein“, so die Autoren. Das überrascht wenig, da die Untersuchung teuer und schwierig zu implementieren ist: Laut einer Aussage des Bioinformatikers Christoph Bock vom CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin aus dem Jahre 20173 kostet eine Exom-Sequenzierung etwa 1.000 Euro, ihre Analyse und Interpretation erfordern viel Spezialwissen und treiben die Kosten damit noch zusätzlich in die Höhe.
Parallel zweite Studie publiziert
Gleichzeitig erschien in The Lancet eine zweite Studie, die ebenfalls den klinischen Nutzen der Exom-Sequenzierung von Föten mit strukturellen Anomalien unterstützt.4 Darin wurde die DNA von 246 Föten und ihrer Eltern untersucht und diagnostisch relevante Genvarianten bei zehn Prozent der Föten mit einer, und bei 19 Prozent bei mehreren Anomalien gefunden. Die Häufigkeit der so diagnostizierten Krankheiten variierte auch in dieser Studie mit dem betroffenen Organsystem; so wurden sie etwa bei 24 Prozent der Föten mit Anomalien im Lymphgefäßsystem gefunden, ebenfalls zu 24 Prozent bei Anomalien im Skelett, und zu 22 Prozent bei Föten mit Anomalien im Zentralnervensystem.
Referenzen
1 Lord J et al.: Prenatal exome sequencing analysis in fetal structural anomalies detected by ultrasonography (PAGE): a cohort study. The Lancet 2018, Online-Publikation am 31.1.2019
2 Newsmeldung vom 1.2.2019, Birmingham Women’s and Children’s NHS Foundation Trust
3 Juliette Irmer: Exom-Sequenzierung: Krankheitsgene entdecken. DerStandard.at, Beitrag vom 19. Juni 2017