19. Sep. 2018

Muss im Leben immer alles sinnvoll sein?

Kürzlich bei meinem Patenkind: Wir spielen eines der vielen Spiele, die sich im Kinderzimmer stapeln. Dieses spezielle Spiel ist nicht nur lustig, sondern auch sehr sinnvoll. Denn da lernt sie Buchstaben zu schreiben gleich spielerisch mit. Die Zahlen kennt sie eh schon bis zehn, wenn sie sie sieht, und zählen kann sie schon bis zwanzig. Und das nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Französisch. Ich bin jemand, der wirklich begeistert ist von Förderung, Lernen, Wissen und nach fast drei Jahrzehnten Karate auch von Disziplin, Anstrengung und ein wenig Drill. Aber das hier erscheint selbst mir ein bisschen viel. Ich meine, sie ist erst zweieinhalb! Kann sie nicht einfach spielen, um Spaß zu haben?

Nicht dass es keinen Spaß machen würde zu lernen! Auch bin ich ein Fan davon, Kinder wenn irgend möglich mehrsprachig aufwachsen zu lassen. Denn was sie da einfach so ganz nebenbei lernen, ist nachher praktisch nicht mehr aufzuholen. Aber muss immer und überall und bei allem, was wir denken, sagen und tun, ein Hintergedanke dabei sein? Ein tieferer Sinn? Von uns aus eigentlich nicht, meinen die Eltern, aber die anderen Kinder in der Kinderkrippe lernen das alles auch, und da ist es sehr verständlich, dass sie nicht wollen, dass die Kleine bei irgendetwas nachhinkt.

D wie Disziplin

Super. Nicht nur sinnvoll strukturiertes Lernen im Spaßmäntelchen, sondern auch ein Wettlauf der Zwei- bis Dreijährigen! Da dreht sich mir der Magen um. Ich bin mir ganz sicher, dass die Kleine später einmal eine Staranwältin oder, wenn es nach mir geht, eine Spitzenärztin wird. Aber meiner Meinung nach hätte das noch ein paar Jährchen Zeit. Von mir aus könnte sie jetzt noch dasitzen, sinnlose Schlangenlinien über das Papier zeichnen, die Bauklötze nicht nach den Gesichtspunkten der Statik übereinanderschlichten oder sogar einmal damit werfen. Sie müsste sich nicht jeden Liedertext merken, und ich habe auch nichts gegen ein paar Brabbelsätze in Babysprache. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das mit der späteren Möglichkeit, Quantenphysik zu studieren, irgendwie interferiert.

Das ist jetzt keine Kritik an den dazugehörigen Eltern. Die machen ihre Sache wunderbar. Es lässt mich nur ein wenig über den Wind, der bei uns allen weht, nachdenken. Alles muss einen Sinn und Zweck haben, sonst hat es keinen Wert. Dieses Dogma ist fest eingebrannt in unsere Köpfe. Ob wir jetzt unsere Kinder unter seinem Einfluss erziehen vor lauter Angst, dass sie es sonst im Leben zu nichts bringen, oder ob wir uns selbst damit knechten, ist egal. Fort sind Spaß und Leichtigkeit. Sinn und Zweck sind an ihre Stelle getreten. Und wir merken nicht einmal, was für ein Schuss ins eigene Tor das ist. Und wenn wir es merken, heißt das noch nicht, dass wir unsere Herangehensweise daran so leicht ändern. Und ich weiß, wovon ich spreche. Das Konzept ist mir nämlich gar nicht fremd, ich könnte es sogar erfunden haben.

Bis zu einem gewissen Grad ist es ja sogar hilfreich. Es bringt einen durchs Medizinstudium, hat mich mehrere Sprachen erlernen lassen und mir fünf Schwarze Gürtel im Karate beschert. Spaß und Freude am Leben oder Leichtigkeit waren nicht so wichtig. Und da man aber ohne auf Dauer nicht leben kann, muss man mühevoll nachlernen. Was ein Widerspruch in sich ist: „Die mühevoll erlernte Leichtigkeit“. In meinem Fall an allen Ecken und Enden ein Kampf. Es beginnt mit der Freizeitgestaltung. Ein Problem, das ich jahrelang nicht hatte. Eines, das sich erst in letzter Zeit aufgrund einer gut laufenden Ordi mit immer wieder Urlaub und oftmals freien Wochenenden stellt. Was man da alles lesen könnte, ins Theater gehen, sich weiterbilden, networken oder Ausstellungen besichtigen! Und wenn ich dann einfach nur den lieben langen Tag vor mich „hingemaundlt“ habe und der Tag ohne große Erleuchtungen vergangen ist, bleiben erstmal Leere und schlechtes Gewissen. Sport ist mein nächster Pferdefuß.

Nach Jahren der Trainingspläne ist in meinem Kopf fest verankert, wie oft und wie viel davon sein muss. Und wenn ich das Pensum nicht erreiche oder einfach vor mich hin spaziere, weil’s mir Spaß macht, provoziert das innerliche Krisen. Vom Essen wollen wir da gar nicht erst anfangen zu reden: genug Protein, ausreichend Ballaststoffe, die fünf Portionen Grünzeug. So etwas kann einem auch jedes gelegentliche Schokoeis sauer werden lassen. Nicht einmal verlängerte Wochenenden auf der Hütte sind vor mir sicher. Denn dann hab ich ja Zeit, Kolumnen zu schreiben oder mit den Katzen zum Tierarzt zu fahren. Und wenn ich am Abend mit einer Katze, die sich auf meinem Bauch kringelt, am Bankerl vor der Hütte in den Sonnenuntergang schaue, denke ich, dass ein Kräutertee gesünder wäre als ein „Sauvignon blanc“. Und außerdem sollte ich die Katze wahrscheinlich lieber bürsten statt streicheln, denn dann wäre die Fellpflege auch gleich erledigt. Aber ganz gelegentlich passiert es trotzdem: genüssliches Schnurren, ein sanfter Wind, die letzten Sonnenstrahlen. Und dann muss nichts mehr einen tieferen Sinn und Zweck haben, und ich bin einfach nur da.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune