Das Mädchen mit heftigen Rückenschmerzen
Der Fall. Sophie ist 7 Jahre alt und kommt schmerzgeplagt mit ihrer Mutter in die Ordination. „Seit 10 Uhr hat Sophie starke Rückenschmerzen, die trotz Nureflex gar nicht besser werden“, schildert Frau K. die Beschwerden ihrer Tochter. „Letzte Woche hatte sie einen Infekt mit Fieber, aber das hat sich rasch gebessert. Ich weiß nicht wie ich ihr helfen soll. Sowas hatte sie noch nie.“ Sophie liegt gekrümmt vor Schmerzen auf der Untersuchungsliege. Cor/Pulmo: unauff., Abdomen: druckschmerzhaft, Milz stark vergrößert, Temp.: 36,6°C, Infektlabor unauff. aber Hämatokrit: 20 Prozent, Hämoglobin 6,8 g/dl. Dauermedikation: keine, Vorerkrankungen: Sichelzellanämie. Wie lautet Ihre Verdachtsdiagnose? Welche Maßnahmen setzen Sie und wie können Sie Sophie rasch helfen? (ärztemagazin 14/18)
„ Am wichtigsten ist der Hinweis auf die Vorerkrankung Sichelzellanämie“
Univ.-Prof. Dr. Renate Heinz
Wahlärztin in Wien
DAMIT BESTEHT der dringende Verdacht auf das Vorliegen einer Sichelzellkrise mit Milzinfarkt, ausgelöst durch den Infekt vor einer Woche. Sichelzellkrisen sind hämatologische Notfälle und gehören umgehend auf Spezialabteilungen behandelt. Daher ist die 1. Frage: Wo wurde die Diagnose gestellt? Es ist Kontakt mit dem Kompetenzentrum aufzunehmen. Notfallmaßnahmen in der Ordination sind Analgetika und Flüssigkeitsgabe. Da Ibuprofen nicht gewirkt hat, ist nicht zu erwarten, dass Paracetamol wirkt (zusätzlich Gefahr der Lebertoxizität!) Hochpotente Analgetika fallen aus: Codein wirkt bei 10% der Sichelzellpatienten nicht und Morphinderivate dürften in den wenigsten Ordinationen lagern. Ich würde zu Novalgin®-Tropfen greifen (Tageshöchstdosis 60 Tropfen!). Intravenöse Flüssigkeit muss genau bilanziert werden: Es besteht die Gefahr der Überwässerung!
Fortschreitende Gefäßverschlüsse bedingt durch die Sichelzellen können alle Organe betreffen: Hirninfarkte! – daher ist die Transferierung in meinen Augen unumgänglich. In Wien gibt es kompetente Stellen: das AKH, das St.-Anna-Kinderspital und auch die Rudolfstiftung. Die Prognose hat sich sehr verbessert: Medikamentöse Therapie z.B. Litalir® ( ein Zytostatikum!) und die Knochenmarkstransplantation sind etablierte Therapieformen. Alle Ärzte müssen das Krankheitsbild kennen (Familienanamnese!). Durch die Migration sind Hämoglobinopathien (Thalassämien, Sichelzellanämien) auch bei uns relevante Diagnosen geworden. Weltweit sind Millionen Menschen betroffen. Die Schmerzen bei Sichelzellkrisen gehören zu den stärksten in der Medizin bekannten. Nach Diagnosestellung gilt für die Patienten und ihre Eltern, dass sie entsprechend aufgeklärt (Ausweis!) Kontakt zum Kompetenzzentrum halten und dieses bei klassischer Symptomatik umgehend kontaktieren.
„ Gefährlich und potenziell lebensbedrohend ist die akute Milzsequestration“
Dr. Peter Dremsek
Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien
IM KLINISCHEN Vordergrund der Sichelzellerkrankung steht weniger die Anämie als die erhöhte Neigung zu bakteriellen Infekten sowie zu akuten und rezidivierenden Gefäßokklusionen aufgrund der dysplastischen und dysfunktionalen Erythrozyten. Plötzlich auftretender Schmerz in jeglicher Körperregion im Rahmen von Ischämien ist ein wichtiges und häufiges Symptom der kindlichen Sichelzellanämie. Eine symptomatische Schmerztherapie erfolgt mit NSAR, evtl. auch in Kombination mit Opioidanalgetika. Anamnestisch lässt sich oft physischer Stress, Dehydration, Kälteexposition oder ein vorangegangener Infekt erheben. Insbesondere bei Infektionen mit Parvovirus B19 kann es zu aplastischen Krisen, Fieber, Schmerz Milzsequestration, Glomerulonephritis und Schlaganfällen kommen. Besonders gefährlich und potenziell lebensbedrohend ist die akute Milzsequestration. Klinisch lassen sich eine Splenomegalie mit Anämisierung beobachten. Außerdem kann es je nach Stadium zu typischen Schockzeichen wie extremer Blässe, Hypotonie und Tachykardie kommen.
Bei der Beurteilung des Hämoglobins ist zu beachten, dass die Erkrankung in der Regel bereits mit einer gut tolerierten Anämie vergesellschaftet ist. Die Hämoglobinkonzentration sollte daher mit den Basiswerten des betreffenden Patienten verglichen werden. Ein Abfall von mehr als 2g/dl ist jedenfalls ein Alarmzeichen. Der Verdacht auf eine Milzsequestration sollte auch sonographisch geklärt werden. Die geschilderte Situation stellt jedenfalls einen Notfall dar, welcher umgehend einer entsprechenden Klärung und Behandlung zugeführt werden muss! Bei Milzsequestration steht die hämodynamische und hämatologische Stabilisierung der Patientin im Vordergrund. Nach einer überstandenen Milzsequestration kommt es in ca. 50 Prozent der Fälle innerhalb von sechs Monaten zu einem Rezidiv. Die Eltern sollten daher geschult werden und die Palpation der Milz erlernen, um ein Rezidiv möglichst früh zu erkennen. Zur Verhinderung weiterer Sequestrationen kann eine elektive Splenektomie mit allen begleitenden und prophylaktischen Maßnahmen erwogen werden.
„ Die Behandlung beschränkt sich auf symptomatische Maßnahmen“
Prim. MR. Dr. Helmuth Howanietz
Kinderarzt in Wien
SOPHIE LEIDET AN einer bekannten Sichelzellkrankheit, andere Vorerkrankungen waren anamnestisch nicht erhebbar. Hereditäre Defekte des Hämoglobins lassen sich in solche mit erhöhter Aggregationsneigung (Sichelzellkrankheit, HbS), erhöhter Präzipitationsneigung (instabile Hämoglobine) und veränderter Sauerstofftransportfunktion (Methämoglobine, HbM) einteilen. Bei HbS handelt es sich um eine kongenitale, chronische hämolytische Anämie, was auch an dem niedrigen Hämatokrit (20%) und Hämoglobinwert (6,8g/dl) im BB von Sophie erkennbar ist. Milzkrisen sind hier die Folge von Infarkten, weswegen sich die in früher Kindheit vergrößerte Milz durch Fibrosierung zunehmend verkleinert. Die Diagnose wird einerseits durch Zeichen einer hämolytischen Anämie im BB, aber darüber hinaus durch Hämoglobinelektrophorese, Löslichkeits- und Sicheltest serumchemisch als auch durch einen peripheren Blutausstrich (Sichelzellform der Erythrozyten) gestellt. Eine Sonographie der Bauchorgane (Milz, Leber, Niere) kann hilfreich beim Erkennen frischer Infarkte sein. Differentialdiagnostisch muss an alle ein akutes Abdomen verursachende Erkrankungen (Appendicitis, Nephritis, basale Pneumonie, diabetische Peritonitis et cetera) gedacht werden, wegweisend ist aber das BB, die andere zur Differentialdiagnose zählende Serumchemie (Leber-, Nierenfunktionsparameter, BZ, et cetera) und wie in unserem Fall der klinische Befund (Splenomegalie).
Die Behandlung beschränkt sich auf symptomatische, schmerzstillende Maßnahmen (Acetylsalicylsäure 50mg/kg auf 4–6 Einzeldosen aufgeteilt) sowie reichlich Flüssigkeitszufuhr und in seltenen Fällen partiellen Blutaustausch (bei ZNS-Krisen), um den HbS-Anteil unter 30% vom Gesamthämoglobingehalt zu bringen. Auch gehören Antibiotika zum Therapieschema einer Krise, wirksame Medikamente zur Verhütung und Prophylaxe dieser gibt es nicht, allerdings hat sich das Vermeiden von Sauerstoffmangel (CAVE! Narkosen) oder erhöhter Blutviskosität positiv ausgewirkt. Im Intervall kann Folsäure 1mg/ Tag über 3 Monate gegeben werden und eine p.o. Dauerprophylaxe mit Penicillin reduziert signifikant die Infektionsmorbidität und damit Mortalität (6–8 Prozent im Kindesalter bei guter medizinischer Versorgung).