Herr F. kann kaum noch lesen

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Der Fall. Herr F. (75J., Pensionist) besucht Sie heute in Ihrer Ordination mit folgendem Problem: „Jetzt kann ich bald nichts mehr lesen, wenn das so weitergeht.“ Sie erfahren, dass Ihr Patient seit ca. einem Jahr schlechter sieht. Anfangs benötigte er einfach mehr Licht, aber inzwischen sei fast alles verschwommen und verzerrt. „Wenn ich die Zeitung lese, sind überall so dunkle Flecken. Selbst mit dem größeren Fernsehbildschirm, den wir extra gekauft haben, kann ich nicht besser lesen. Können Sie mir nicht eine Brille oder eine Tablette verschreiben, damit ich wieder besser lesen kann?“ Herr F. lebt mit seiner Frau, die beiden können sich noch selbst versorgen, 2 Kinder (wohnhaft in der Nähe),  Raucher, St.p. Hüft-TEP 2015, VE: BPH, RR 140/90mmHg, P 70/Min, Temp: 36,7°C. Wie lautet Ihre Verdachtsdiagnose, welche Untersuchungen führen Sie durch und was antworten Sie Ihrem Patienten? (ärztemagazin 12/18)

„Verdachtsdiagnose ist eine feuchte altersbedingte Makuladegeneration“

Univ.-Doz. Dr. Irene Ruhswurm, 
FÄ f. Augenheilkunde und Optometrie, Wien
Bei dieser Anamnese ist meine erste Verdachtsdiagnose eine feuchte altersbedingte Makuladegeneration. Bei der sogenannten feuchten Form dieser Erkrankung sind Metamorphopsien die Hauptsymptome – verzerrte und verbogene Linien, die vor allem beim Lesen und beim Blick auf gerade Gegenstände, zum Beispiel Türstöcke, auffallen. Diese Verbiegung der ­Linien ergibt sich aufgrund von Schwellungen und/oder Blutungen in der Netzhautmitte. Gleichzeitig führen diese Veränderungen zu einer Verschlechterung des zentralen Sehens, das heißt das Lesesehvermögen nimmt stark ab. Die schwarzen Flecken könnten auf eine Blutung in der Makula hinweisen, auch dies deutet auf eine feuchte Form da Makuladegeneration hin. Der nächste Schritt ist eine exakte augenärztliche Untersuchung.

Diese beinhaltet eine genaue Visuskontrolle, eine Untersuchung des Augenhintergrunds bei weiter Pupille, und die Untersuchung mit dem OCT. OCT ist die Abkürzung für Optische Kohärenztomografie; mit dieser können einzelne Schichten der Makula dargestellt werden. Damit kann eine genaue Lokalisation der Erkrankung erfolgen. Bei Bestätigung des Verdachts ist eine Therapie mit intraokularen Injektionen möglich, die bei rechtzeitiger Diagnose zur Rückbildung der Schwellungen und Blutungen führt. Jedoch ist diese Therapie zum derzeitigen Stand der Wissenschaft häufig über Jahre erforderlich. Die Makuladegeneration ist eine Abnutzung der Netzhautmitte, die vererbt werden kann. Allerdings gibt es auch Faktoren des Lebensstils, die das Risiko, an einer Makuladegeneration zu erkranken, erhöhen. Dazu gehören hohe Sonnenexposition und Rauchen. In diesem Fall werde ich dem Patienten dringend raten, mit dem Rauchen aufzuhören, bevor er, bei Bestätigung der Diagnose, an ein Krankenhaus zur Therapie weitergeleitet wird.

„Klassisch sind die Schwierigkeiten beim Lesen und die Verzerrungen“

Priv.-Doz. Dr. Erdem Ergun,
Leiter Netzhautambulanz Sanatorium Hera, Wien
Aufgrund der Beschwerden des Patienten ist eine Erkrankung der Makula, der Netzhautmitte, sehr wahrscheinlich. Klassisch sind v. a. die Schwierigkeiten von Herrn F. beim Lesen und die angegebenen Verzerrungen. Da der Patient älter ist, wäre die wahrscheinlichste Diagnose eine altersbedingte Makuladegeneration (AMD). Hierbei gibt es zwei Formen, die trockene AMD mit zunehmendem Verfall der Sinneszellenschicht und entsprechender geographischer Atrophie, und die feuchte oder neovaskuläre Form, gekennzeichnet durch eine choroidale Neovaskularisation. Die Anamnese weist eher auf die trockene Form hin, da die Beschwerden sich langsam entwickelten. Eine neovaskuläre Affektion verursacht für gewöhnlich einen rascheren, dramatischen Abfall des Visus. Diagnostisch wäre zunächst neben einer Visusüberprüfung, vor allem in der Nähe, eine Fundusuntersuchung an der Spaltlampe unter Mydriase zwingend erforderlich. Oft ist die Diagnose der trockenen, altersbedingten Makuladegeneration allein dadurch ausreichend möglich. Etwaige andere Erkrankungen hereditärer Natur können ebenfalls ausgeschlossen werden.

Bei Unklarheiten ist eine Schichtuntersuchung der Makula, die sog. spektral optische Kohärenztomographie, notwendig, einerseits um die Diagnose zu bestätigen, andererseits um die feuchte Form auszuschließen. Manche Hersteller ermöglichen auch die Aufnahme eines sogenannten Autofluoreszenz-Bilds der Netzhaut. Unter gewissen Umständen kann dieses dazu beitragen, den Patienten besser über den Krankheitsverlauf aufzuklären. Eine Therapie ist bei der trockenen AMD leider nicht möglich. Die letzte, großangelegte Multizenterstudie mit Lampalizumab war negativ, weitere, intensive Forschungsarbeiten laufen an. Auf alle Fälle ist dem Patienten zu empfehlen, mit dem Rauchen aufzuhören, da dies einen gesicherten Risikofaktor der AMD darstellt. Eine Vitaminprophylaxe wäre in Abhängigkeit des Befunds anzudenken. Eine Kombination aus Vitamin C, E, Zink und Lutein führt zu einer deutlichen Reduktion der Wahrscheinlichkeit, an einer feuchten AMD zu erkranken. Essentiell ist die visuelle Rehabilitation des Patienten. Einzelne Firmen sind mittlerweile darauf spezialisiert, solchen Patienten Sehhilfen anzupassen. Es gibt sowohl konventionelle als auch elektronische Hilfsmittel, die die Lebensqualität des Patienten deutlich verbessern können.

„Eine OCT-Untersuchung zur Diagnosesicherung ist auf alle Fälle sinnvoll“

Priv.-Doz. Dr. Christiane Isolde Falkner-Radler, 
FÄ f. Augenheilkunde und Optometrie, Augenchirurgin, Wien, www.falkner-radler.at
nach einem Sehtest in der Ferne und Nähe verabreiche ich dem Patienten pupillenerweiternde Augentropfen, damit ich die Netzhaut und vor allem die Makula beurteilen kann. Seiner Anamnese nach ist meine erste Verdachtsdiagnose die altersbedingte Makuladegeneration (AMD). Da seine Beschwerden schleichend über Jahre zunehmen, ist eher die trockene Form mit Drusen und/oder einer geographischen Atrophie wahrscheinlich. Differentialdiagnostisch sollte man auch an andere Erkrankungen der Makula, wie epiretinale Membranen denken. Makulaödeme, Makulaforamen und die feuchte Form der AMD führen eher akut zu einer Sehverschlechterung. Eine OCT-Untersuchung zur Diagnosesicherung ist auf alle ­Fälle sinnvoll. Würde es sich um eine feuchte AMD handeln, wäre noch eine zusätzliche Farbstoff­untersuchung (FLA) für eine Therapieplanung erforderlich. Derzeit gibt es bei der trockenen Form der AMD keine Behandlungsoption, die auch „evidence based“ wäre. Man kann sich das Lesen nur mit „vergrößernden Sehbehelfen“, wie zum Beispiel mit Lupenbrillen, erleichtern. Gesunde Ernährung, Sport, kein Rauchen sowie Nahrungsmittelergänzungen sind weitere empfohlene Zusatzmaßnahmen bei beiden Formen der AMD.

Bei der feuchten AMD gibt es unterschiedliche Substanzen, die man in den Glasköperraum injizieren kann (IVOM). Diese Injektionen werden meist im Abstand von 4 Wochen verabreicht und können die Sehleistung im günstigsten Fall verbessern oder stabilisieren. Oft sind mehrere Injektionen erforderlich, der Behandlungserfolg wird mittels Sehprobe und OCT-Kontrolle erhoben. Bei der trockenen Form sind bei gleichbleibendem Sehvermögen OCT-Kontrollen anfangs alle 6 bis 9 Monate, dann jährlich erforderlich. Ein Amsler-Gitter-Test sollte dem Patienten für zu Hause mitgegeben werden. Dieser Test dient als Früherkennung sowie der Feststellung einer Progredienz von Makulaerkrankungen. Weiters empfehle ich auch ein OCT-Screening von Erwachsenen mit positiver AMD in der Familienanamnese. Besonders die feuchte Form gilt es rasch zu erkennen und zu behandeln. Die AMD ist eine Augenerkrankung, die mit einer meist schweren Sehbeeinträchtigung einhergeht und durch Verlust der Lesefähigkeit auch leider psychisch belastend ist.