6. Mai 2024Mehrwert für alle schaffen

Quo vadis, digitale Medizin?

Was passiert mit Daten, die im Rahmen der digitalen Medizin generiert werden? Wie gehen Menschen mit ihren eigenen Gesundheitsdaten um? Und wie lassen sich die Konzepte aus der Medizinethik auf die digitale Medizin umlegen? Fragen, die sich im Zeitalter von KI, Telemedizin und ChatGPT stellen.

Ärztin und Chirurgin analysiert das Gehirn eines Patienten anhand der menschlichen Anatomie
greenbutterfly/AdobeStock

Frühwarnsysteme, die etwa den Schlafrhythmus, die Blutwerte oder die Herzfrequenz überwachen, können durchaus sinnvoll sein. Im Idealfall führen sie dazu, dass Patientinnen und Patienten früher ihre Ärztin bzw. ihren Arzt aufsuchen, sagt Univ.-Prof. Dr. Martina Schmidhuber, Professorin für Health Care Ethics an der Universität Graz.

Mehr Kapazitäten, aber auch Gefahren durch KI

Apps können auch helfen, dass sich Patientinnen und Patienten sicherer fühlen, wie ein Team der MedUni Graz in ihrer Studie „Apps in der Sekundärprävention nach Schlaganfall“* herausgefunden hat. „Wenn man schon einen Schlaganfall hatte und dann die Möglichkeit hat, gewisse Parameter zu überwachen, sind diese Apps sehr, sehr hilfreich“, ist Schmidhuber überzeugt.

Allerdings würden Juristinnen und Juristen sehr vor einem unachtsamen Umgang mit den Gesundheitsdaten aus der Selbstüberwachung warnen. Denn man wisse zu wenig darüber, wo diese Daten landen und ob sie nicht irgendwann missbraucht werden könnten. Schmidhuber: „Solange man gesund ist und die Aufzeichnung nur zur Selbstoptimierung dient, ist es ja unproblematisch. Problematisch wird es dann, wenn man nicht mehr gesund ist."

Portrait Prof. Martina Schmidhuber
G. Neuhold

Univ.-Prof. Dr. Martina Schmidhuber

Aus einigen wenigen Studien aus den USA wisse man, dass es aufgrund von Gesundheitsdaten Probleme mit Versicherungen oder Arbeitgebenden geben kann, dass zum Beispiel Menschen aufgrund ihrer Gesundheitsdaten von ihrer privaten Versicherung gekündigt werden.

Auf der anderen Seite könnte die digitale Medizin für eine gerechtere Gesundheitsversorgung sorgen. Wenn Ärztinnen und Ärzte von einem KI-System unterstützt werden, hätten sie mehr Kapazitäten für die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten. Aber auch hier rät die Expertin aus ethischer Sicht zur Vorsicht. Im November 2023 titelte der Standard „Versicherungs-KI streicht Patienten offenbar wichtige Behandlungen“. Eine Reihe von Leistungskürzungen entgegen dem ärztlichen Rat hatte zu einer Klage gegen den größten US-Gesundheitsversicherer United Healthcare geführt. Schmidhuber: „Das ist natürlich genau das, was wir nicht wollen von der KI. Sie soll unterstützend sein und nicht dazu führen, dass Menschen schlechter behandelt werden.“

Telemedizin in Zeiten der Pandemie

Die Telemedizin war in der Corona-Pandemie sicher ein großer Vorteil, spricht Schmidhuber einen weiteren wichtigen Aspekt der digitalen Medizin an. „Ich weiß zum Beispiel von der Medizinischen Universität Innsbruck, mit der ich eng zusammenarbeite, dass zumindest einmal ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden haben sollte“, erzählt die Medizinethikerin aus der schwierigen Zeit. Aber danach habe sich sehr viel an Nachversorgung telemedizinisch abwickeln lassen, zum Beispiel die Besprechung von Symptomen oder die Nebenwirkungen von Medikamenten. „Das ist natürlich eine große Entlastung, die man auch aus ethischer Sicht positiv sehen muss!“ Gerade für Menschen aus ländlichen Gegenden oder für ältere, nicht mobile Menschen sei die Telemedizin ein Segen. Wobei es immer eine Frage des Zugangs ist, wie man die telemedizinische Versorgung gestaltet und wie sie sich umsetzen lässt.

Ethische Prinzipien in der digitalen Medizin

Die 4 medizinethischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress2, nach denen ärztliches Handeln in der Praxis ausgelegt werden sollte, lassen sich auch auf die digitale Medizin anwenden. „Daran kann man sich orientieren, wenn man schwierige Entscheidungen zu treffen hat“, erklärt die Medizinethikerin. Die 4 Prinzipien bewähren sich vor allem in Dilemmasituationen: Wie werde ich der Autonomie der Patientin bzw. des Patienten gerecht, was gereicht zu deren Wohl, was schadet keinesfalls und wie steht es um die Gerechtigkeit?

  • Autonomie: Haben sich Patientinnen und Patienten aus freien Stücken dazu entschieden, die digitalen Möglichkeiten anzuwenden? Patientinnen und Patienten sollen z.B. nicht zur Telemedizin gedrängt werden, wenn ihnen der Besuch im Krankenhaus lieber ist. Wenn Patientinnen und Patienten digitale Medizin in Anspruch nehmen, müssen sie umfassend aufgeklärt werden. Dazu gehört die Frage, wo die Daten gespeichert werden und ob sie für Forschungsprojekte verwendet werden.
  • Wohltun: Dient die digitale Medizin überhaupt dem Wohl der Patientinnen und Patienten? Denn keinesfalls soll die digitale Medizin nur aus ökonomischen Gründen oder aufgrund eines Ärztemangels eingesetzt werden. Sie soll in erster Linie dazu dienen, einen Mehrwert für die Patientinnen und Patienten zu schaffen. Und wenn es darüber hinaus noch günstiger ist als andere Behandlungen – umso besser.
  • Nicht-Schaden: Kann man davon ausgehen, dass Patientinnen und Patienten durch die digitale Medizin kein Schaden entsteht? Es darf nicht sein, dass sie sich schlecht behandelt fühlen oder darunter leiden, dass es keinen Arzt-Patienten-Kontakt, keine menschliche Nähe gibt, z.B. weil die Symptome nur noch im Chat abgefragt werden.
  • Gerechtigkeit: Hier geht es um Inklusion. Gibt es Zugang zur digitalen Medizin für alle, die das wollen oder brauchen? Das ist wesentlich, um eine Zwei-Klassen-Medizin zu vermeiden. Wie muss digitale Medizin gestaltet werden, damit ein Zugang für alle möglich ist, unabhängig von den monetären Mitteln?

„Als Fazit lässt sich sagen, dass es ganz wesentlich ist, dass wir die digitale Medizin immer gemeinsam mit der Arzt-Patienten-Beziehung sehen und nie isoliert“, so die Medizinethikerin abschließend. „Denn die Arzt-Patienten-Beziehung per se trägt viel zur Genesung bei.“

Interview Dr. Alexander Moussa

Die digitale Medizin braucht gute Vorbereitung

„Ich habe immer noch meinen Arztkoffer und mein Stethoskop bei mir, wenn ich der alten Franziska einen Hausbesuch abstatte“, sagt der Allgemeinmediziner Dr. Alexander Moussa schmunzelnd. Trotzdem ist es dem Leiter des Referats „eHealth in Ordinationen“ der Bundeskurie niedergelassene Ärzte der Österreichischen Ärztekammer (ÖAK) ein Anliegen, die „digitale Transformation in der Medizin“ voranzutreiben.

medonline: Herr Dr. Moussa, worin besteht die Herausforderung für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte wie Sie, wenn es um digitale Medizin geht?

Alexander Moussa: Nicht die digitale Medizin, sondern die digitale Transformation des Gesundheitssystems ist die große Herausforderung, die wir zu bewältigen haben. Viele wissen gar nicht, was in der digitalen Medizin bereits alles möglich ist. Es gibt ein großes Portfolio an Tools, die uns jetzt schon im Alltag begegnen, angefangen von Patientendokumentationssystemen über digitale Gesundheitsapplikationen, Sensoren und Monitoring-Systeme bis hin zu Artificial Intelligence und Robotic.

Portrait Dr. Alexander Moussa
Ärztekammer Steiermark/Schiffer

Das Problem ist also nicht, dass es die digitale Medizin noch nicht gibt, sondern dass wir noch nicht gut genug darauf vorbereitet sind, sie einzusetzen. Wenn ich einen hohen Berg besteigen will, kann ich das nicht aus dem Stand tun – ich muss mich darauf vorbereiten. Das Gleiche gilt auch für die digitale Medizin: Die digitale Medizin braucht Grundlagen.

Welche Grundlagen sind das?

Ob eHealth – das ist die große Spange über allem, was mit digitaler Medizin zu tun hat – zum Einsatz kommen kann, hängt vor allem von 2 Faktoren ab: einerseits von der digitalen „Reife“ der Gesundheitsdienstleister, andererseits von der digitalen Inklusion der Patientinnen und Patienten. Keiner darf zurückgelassen werden. Wir müssen darauf achten, dass niemand von der niederschwelligen und barrierefreien Nutzung dieser Technologien abgeschnitten ist!

Wie kann die von Ihnen angesprochene digitale „Reife“ erreicht werden und was kann die Ärzteschaft dazu beitragen?

Bis zum Sommer wird die E-Health-Strategie der Österreichischen Bundesregierung abgeschlossen sein. Die österreichische Ärzteschaft war dabei sehr aktiv eingebunden Es hat einen ganzen Reigen an Veranstaltungen gegeben. Erst kürzlich wurden zudem die Rahmenbedingungen zum European Health Data Space (EHDS)3 beschlossen. Da kommt ganz Großes über die Grenzen hinweg auf uns zu.

Wenn wir als Ärzteschaft die digitale Transformation mitbegleiten wollen, dann müssen wir uns einbringen. Wir müssen sagen, was wir wollen, unabhängig davon, was technisch möglich ist. Denn nur, was uns mehr Zeit für unsere Patientinnen und Patienten schenkt, was uns mehr Menschen in kürzerer Zeit besser behandeln lässt – nur das hat einen Mehrwert. Das heißt, es braucht auch vonseiten der Ärztinnen und Ärzte ein Bekenntnis und eine klare Haltung dazu.

Wo können sich niedergelassene Kolleginnen und Kollegen über die Entwicklungen informieren?

Es gibt eine Vielzahl an Veranstaltungen, Plattformen und Medien – sowohl Print als auch online –, die sich mit digitaler Medizin bzw. eHealth beschäftigen. Zusätzlich werden zunehmend qualitätsvolle Lehrgänge und Fortbildungen für Ärztinnen und Ärzte entwickelt. Mit der ÖGTelemed steht eine Fachgesellschaft zur Verfügung, die sich wissenschaftlich einbringt und Positionen festlegt.

Auf Länderebene gibt es in allen Landesärztekammern Mitarbeitende und ärztliche Referentinnen und Referenten, die sich intensiv mit diesem Thema beschäftigen und als Ansprechpersonen dienen.

Wir haben deswegen auch als Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte die ARGE eHealth gegründet, damit in allen Bundesländern ein einheitlicher Wissensstand über eHealth-Projekte besteht und die Kolleginnen und Kollegen adäquat beauskunftet werden können.

Welche Voraussetzungen sind aus Ihrer Sicht notwendig, damit E-Health sowohl für Ärztinnen und Ärzte als auch für Patientinnen und Patienten einen Nutzen bringt?

Die Digitalisierung muss die ärztliche Tätigkeit unterstützen und die Arbeit erleichtern. Damit bleibt mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten.

Das Hauptaugenmerk muss auf Usability durch zeiteffiziente und leicht bedienbare Oberflächen gelegt werden. Es braucht praktikable und anwenderfreundliche Lösungen unter Berücksichtigung der Ärzteschaft als Hauptusergruppe und die Bereitstellung von interoperablen und standardisierten Schnittstellen.

Nicht zuletzt sind eine ausreichende Finanzierung von eHealth-Projekten durch die öffentliche Hand und realistische Zeitachsen notwendig!

Interview: Dr. Luitgard Grossberger

Quelle:Quo vadis Digitale Medizin, Veranstaltung der Ärztekammer für die Steiermark

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune