24. Sep. 202121. Interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin

Bewegungssucht: Wenn Sport ein ungesundes Ausmaß annimmt

Lange wurde die Bewegungssucht nur als Begleitsymptom von Essstörungen gesehen. Immer mehr kristallisiert sich jedoch heraus, dass es auch eine primäre Bewegungssucht gibt, bei der das Thema „Essen“ nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Weibliche Hände, die Schnürsenkel binden. Die Smartwatch befindet sich am linken Handgelenk und die Sportflasche befindet sich neben dem Sportschuh.
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Während Verhaltenssüchte wie Kaufsucht oder Bewegungssucht in den derzeitigen Klassifikationssystemen DSM-V und ICD-11 noch nicht als eigenständige Störungsbilder anerkannt werden, sind die Öffentlichkeit und die Medien schon einen Schritt weiter. In zahlreichen Artikeln und Online-Beiträgen wird über das Phänomen Sportsucht und die Lebensgeschichten von Personen berichtet, denen das Training wichtiger ist als Familie oder Freunde.

Es handelt sich dabei um Menschen, die sich sehr viel bewegen und deren Symptome dem klinischen Bild ähneln, das von substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen bekannt ist. Ein extremes Beispiel aus der Literatur ist der Fall einer schwangeren Läuferin, die trotz eines Oberschenkelbruchs noch versuchte weiterzulaufen. „Diese Personen leiden wirklich unter ihrem Bewegungsverhalten und sind nicht mehr in der Lage, ihre Aktivitäten zu reduzieren“, berichtet Dr. Flora Colledge, Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit, Universität Basel. „Wenn sie zu einer Reduktion gezwungen werden, geht es ihnen schlecht und sie haben Entzugssymptome wie Depressionen und gesteigerten Alkoholkonsum.“

Nur Symptom oder Sucht?

Ein Manko der Forschung zur Bewegungssucht ist, dass es zwar viele Querschnitt-, aber keine Längsschnittstudien zu diesem Thema gibt und auch keine Studien, in denen versucht wurde, klinische Porträts Betroffener zu erstellen. „Das ist vermutlich ein Grund dafür, dass Bewegungssucht bis vor Kurzem meist lediglich als Begleitsymptom einer Essstörung angesehen wurde.“ Stellvertretend für diese Sichtweise ist eine britische Studie aus dem Jahr 2000 im Br J Sports Med, in der die Autoren zum Schluss kamen, dass Frauen ohne Essstörung keine Persönlichkeitsmerkmale zeigten, die die Definition einer primären Bewegungssucht als eigenständiges Krankheitsbild rechtfertigen würde.

Durchforstet man die Literatur etwas genauer, so finden sich allerdings sehr wohl Studien, in denen Personen mit Bewegungssucht zwar andere psychische Komorbiditäten aufwiesen, sich aber keine Gedanken über ihre Körperform oder ihr Gewicht machten. Starkes Indiz für die Existenz einer primären Bewegungssucht sind vor allem Untersuchungen, in denen Personen mit Essstörungen explizit ausgeschlossen wurden.

Gesucht: klinisches Profil

Um Bewegungssucht genauer zu erforschen, hat die Basler Forschungsgruppe um Colledge eine Studie konzipiert, die das Ziel hat, ein detailliertes klinisches Profil von bewegungssüchtigen Personen zu erstellen. Rekrutiert wurden Männer und Frauen, die pro Woche zehn Stunden oder mehr Sport betrieben und trotz Verletzung oder Krankheit weiter trainiert hatten. Um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen substanzgebundenen oder Verhaltenssüchten zu sehen, mussten die Teilnehmer vier Fragebögen ausfüllen (Bewegungssucht-Skala, Depressionsinventar und Fragebögen zu traumatischen Erlebnissen in der Kindheit und ADHS). Personen, die im Bewegungssucht-Fragebogen über dem Cut-off-Wert für Bewegungssucht lagen, wurden dann zu einem klinischen Gespräch eingeladen, in dem detaillierte Fragen zur Bewegungssucht gestellt und durch strukturierte klinische Interviews allfällige psychische Störungen und Persönlichkeitsstörungen erfasst wurden (SCID-5CV; SCID-5-PD).

Erste Auswertungen der Studie zeigten, dass Teilnehmer mit Bewegungssucht ein deutlich auffälligeres klinisches Profil hatten als Probanden, die unter dem Cut-off-Wert lagen (signifikant mehr Depressionen, ADHS und traumatische Erlebnisse in der Kindheit). Mehr als die Hälfte der Bewegungssüchtigen litt unter einer depressiven Störung, bei fast 50 Prozent wurde eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Besonders häufig waren zwanghafte Persönlichkeitsstörungen. Je schwerer die Bewegungssucht-Symptomatik, desto mehr komorbide Diagnosen gab es.

Ein interessantes Detail war, dass bei bewegungssüchtigen Probanden, die unter einer Depression litten, in der Mehrzahl der Fälle die Bewegungssucht zuerst da war und die Depression erst später auftrat. Eine mögliche Erklärung für diese zeitliche Abfolge ist, dass die Betroffenen vielleicht zuerst niederschwellige Symptome einer Depression gespürt und Bewegung quasi als Selbsttherapie eingesetzt hatten. Ein Versuch, der trotz Steigerung des Bewegungspensums offenbar nicht erfolgreich war und schließlich zur Manifestation der Depression führte. Möglich ist aber auch, dass die Depressionen Symptom eines Übertrainings waren.

Eine Lehre, die aus dieser Beobachtung gezogen werden kann: Bewegung ist bei Depressionen und anderen Störungen ein guter und wichtiger Therapieansatz, sollte aber offenbar auch nicht übertrieben werden.

„Bewegungssucht – erste Ergebnisse zur Komorbidität“, 21. Interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin, München, 2.7.21

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy