Sehnsucht nach dem Winterschlaf
Draußen ist es finster, kalt und grau. Auf der Terrasse liegt silbriger Reif. Die Temperaturen sind auf unkuschelige minus acht Grad gefallen.
Ich sitze an dem alten Schreibtisch, den ich von meiner Urgroßmutter geerbt habe, und starre auf den Schirm meines Laptops. Hinter mir in meinem gemütlichen Lesesessel ringelt schnurrend das Katertier. Deshalb hocke ich selber nicht dort mit einem Krimi in der Hand und einer Tasse Tee daneben. Der kleine Pelzträger sieht einfach so süß und friedlich aus. Da kann und mag ich ihn nicht aus dem bequemen Sessel mit dem kuscheligen Lammfell vertreiben. Bleibt mir, wie gesagt, der Schreibtisch und ein latent schlechtes Gewissen, da die erste Kolumne des heurigen Jahres überfällig ist.
Kindheitserinnerungen
Vor mir steht ein Häferl aus Emaille mit Beulen und ausgeschlagenen Ecken. Das habe ich vorgestern einem Bekannten abgeschnorrt. Das Teil sieht einfach so sehr nach Kindheitserinnerungen aus. Als käme es direkt aus der Küche meiner Großmutter. Oma fehlt mir. Und ihre große Küche im alten Haus, die wunderbaren Gerüche und die Speisekammer mit den eingelegten und eingekochten Köstlichkeiten, hauptsächlich aus ihrem eigenen Garten. Ein kulinarisches Paradies. Und die Weihnachtskekse, die ich heimlich noch als Betthupferl bekommen habe. Heutzutage natürlich undenkbar. Schließlich braucht der Körper sein Fastenintervall, sonst passiert – eh schon wissen – alles Mögliche und Unmögliche mit unserem Stoffwechsel oder unseren Blutgefäßen. Was für ein Glück, dass wir das damals noch nicht wussten! Und außerdem darf man nach dem Zähneputzen sowieso nichts mehr essen. Das allerdings wussten wir damals schon. Wahrscheinlich schmeckten die Kekse deshalb besonders köstlich.
Manchmal wäre ich gerne wieder dort. Um das Haus herum die Natur im Winterschlaf, in meiner Hand ein Buch und in der Nase der Duft aus dem Kochtopf oder dem Backrohr. Ruhig war’s, langsam war’s und manchmal sogar ein wenig langweilig. Dann hat mir Oma gezeigt, wie man Socken strickt. Oder wie man Patiencen legt, und ich wollte unbedingt, dass sich die Dinger ausgehen. Manchmal bin ich nur auf einem der breiten Fensterbretter in der Küche gesessen, habe vor mich hin geträumt und einfach nichts getan. Kein Radio, kein Fernseher, nicht einmal der Plattenspieler oder Kassettenrecorder im Hintergrund hat auch nur einen Mucks von sich gegeben. Von den Segnungen der modernen Elektronik wusste die Welt damals glücklicherweise noch nichts.
Keine Ruhe, keine Pause
Gestern war ich bei meinem Patenkind zum Spielen. Ein Wirbelwind von elektronischen Spielzeugen ist durchs Zimmer gefegt. Mir tun heute noch die Netzhäute weh von all den Lichtblitzen und die Trommelfelle schwirren noch immer vom Lärm. Die Erzählungen davon, was alles wann und wo im Urlaub erlebt und unternommen wurde, macht mich jetzt noch schwindelig. Andere Zeit, andere Lebensentwürfe. Die oberste Direktive ist, nur ja keine Sekunde der Stille oder Langeweile aufkommen zu lassen. Nur keine Ruhe, keine Leere, keine Pause. Ob das auf Dauer gutgeht, werde ich vielleicht nicht einmal mehr erleben. Ich für mich persönlich will jedenfalls zurück in die graue, stille Winterlandschaft. Ich möchte einmal wieder die Raunächte erleben.
Raunächte, wen interessiert das noch? Die muss man nicht mehr kennen und auch nicht mehr erleben wollen. Wozu sollte es uns kümmern, wenn die Natur sich schlafen legt, ausruht und dann langsam wieder aufwacht. Wir sind unabhängig davon. Wir haben Heizung, Klimaanlage, Streaming-Dienste und E-Mobilität. Wir brauchen keine Pause. Und Einkehr ist maximal dann interessant, wenn es sich um ein gutes Wirtshaus handelt.
Wahrscheinlich bin ich ein bisschen seltsam gestrickt. Aber wenn die Ordi Tag für Tag übergeht mit noch mehr Menschen und noch mehr Problemen und sich das Karussell der Anforderungen immer schneller dreht, wenn aus jedem Lautsprecher Geräusche plärren und ein Spielzeug-Tornado durchs Wohnzimmer wütet, dann packt mich die Sehnsucht. Nach den Tagen und Nächten der Stille und Ruhe. Nach dem Schweigen der Natur und dem eigenen Schweigen. Nach dem Nicht-Müssen, Nicht-Tun und Nicht-Planen. Danach Resümee zu ziehen, zu überdenken und endlich im Augenblick anzukommen. Nach einem Spaziergang in der Kälte und danach einer heißen Tasse Tee. Und dann mit dem Katertier zu kuscheln und beschnurrt zu werden.
Ich sitze da am Schreibtisch meiner Urgroßmutter. Das Schnurren hinter mir im Sessel ist einem sehr entspannten und regelmäßigen Schnarchen gewichen (die Pelzkugel ist wieder mal verschnupft). Und ich starre auf das alte, ausgeschlagene Emaille-Häferl. Ein bisschen kann ich es jetzt riechen: den Duft von Omas Wurzelgemüse aus dem großen Topf am Herd. Und den Duft von Zimt und Vanille aus der Speisekammer. Und dann wäre ich gerne wieder dort. Wo an einem Tag wie heute meine einzige Sorge die wäre, wie ich ihr noch ein zweites oder drittes Stück Kuchen rausleiern kann.