Der englische Patient: eine Anamnese

Aus Großbritannien erreichen uns regelrechte Horrorgeschichten vom zusammenbrechenden Gesundheitssystem. Medical Tribune fragte nach – bei Dr. Doris A. Behrens, einer Österreicherin, die im UK lebt. (Medical Tribune 14/18)

Doris A. Behrens lebt seit einigen Jahren in Großbritannien.

Großbritannien schreibt nicht nur mit dem Brexit oder der politischen Krise mit Russland im Zuge des Giftanschlags Schlagzeilen. Auch das britische Gesundheitswesen rückt immer wieder in den Fokus. Und das ist selten positiv. Im Gegenteil: Überfüllte Betten, verschobene OPs, Medien berichten sogar über Patienten, die vernachlässigt auf Klinikgängen sterben, und Pensionisten, die nach Stürzen stundenlang allein zu Hause auf einen Krankenwagen warten müssen. Kurzum, in englischen Kliniken herrscht teilweise regelrechter Ausnahmezustand, es ist sogar die Rede von der schwersten Krise des Gesundheitsdienstes NHS seit Jahrzehnten. Und der Brexit könnte die Situation noch verschärfen.

Sogar US-Präsident Donald Trump hat das britische Gesundheitssystem bereits genüsslich attackiert – schließlich sieht er darin ein warnendes Beispiel für die USA, wohin eine allgemeine Krankenversicherung führe. Wie schlimm ist die Situation nun wirklich? Was sind die Gründe für die Krise? Und inwieweit kann man das britische System mit dem österreichischen vergleichen? Medical Tribune fragte nach: bei Dr. Doris A. Behrens, einer Österreicherin, die seit 2015 als „Research Associate/Principal Mathematical Modeller“ in Wales tätig ist.

Frau Dr. Behrens, wie schlimm ist die aktuelle Situation im Gesundheitswesen in Großbritannien tatsächlich?

Behrens: Die aktuelle Situation für den seit 1948 bestehenden Nationalen Gesundheitsdienst, den National Health Service (NHS), ist in der Tat bedenklich. Zuletzt entzündeten sich die Gemüter an einer sogenannten „Winterkrise“, die gepaart mit der heurigen Grippewelle zu eklatanten Engpässen bei Spitalsbetten und Personal führt. Besorgniserregend ist, dass teilweise auch geplante medizinische Eingriffe bzw. Operationen durch wiederholte Verschiebungen zu Notfällen eskalieren oder zu einer dramatischen Verschlechterung des Gesundheitszustands von Patienten führen können. Man muss auch zugeben, dass die britischen Notfallambulanzen heuer den Tiefststand ihrer Performance-Werte erreicht haben – seit Beginn der Aufzeichnungen.

Was sind die Hauptgründe für die Misere?

Behrens: Ein Grund für die derzeit beobachteten Probleme ist die chronische Unterfinanzierung des NHS. Ein weiterer Grund sind seit Jahren bestehende „Ineffizienzen“ innerhalb des NHS. Ich würde diese salopp als „Reibungsverluste“ bezeichnen, da sie oftmals durch die starke Fragmentierung des Gesundheitssystems – sowohl in Hinblick auf Finanzierungsals auch auf Informationsströme – bedingt sind. Die Versorgungsplanung erfolgt hauptsächlich retrospektiv und nicht prospektiv. Der demographische Wandel einer auch im Vereinigten Königreich alternden Gesellschaft erhöht den Druck auf die nicht adäquat adaptierte Versorgungslandschaft dramatisch.

Wie genau äußern sich die Ineffizienzen und Reibungsverluste?

In vielen Fällen fehlt beispielsweise die Koordination von Behandlungsplänen mit den lokalen Sozialbehörden. Das verlängert Spitalsaufenthalte, was zu ineffektivem Bettenkapazitätsmanagement in Krankenhäusern führt. Das wiederum kann zu Verzögerungen bei der Aufnahme von Patienten führen und die Versorgung beeinträchtigen. Ähnliches gilt für den Primärbereich, der sich darüber hinaus mit riesigen strukturellen Herausforderungen konfrontiert sieht. Natürlich auch mit finanziellen, da der Krankenhaus- bzw. Facharztbereich einen immer größeren Anteil der Ressourcen verschlingt, um den Zielvorgaben der Regierung zu entsprechen. All das ist derzeit der „Preis“ für ein System, in dem jeder Einwohner das Recht auf kostenfreien Zugang zu medizinischer Versorgung hat – ohne Abstufungen in der Qualität und ungeachtet des derzeitigen Einkommens. Was ich persönlich stark befürworte.

Man kann aus Ihren Ausführungen aber auch schließen, dass manche Probleme hausgemacht sind. Wo sind etwa im ambulanten Bereich die Defizite?

Behrens: Wir sehen uns mit einem System konfrontiert, das täglich darum kämpft, die „Patientenströme“ durch das jeweilige Spital und zurück in den Bereich der lokalen Gesundheits- bzw. Sozialversorgung zu schaffen. Das Versagen, Spitalspatienten zügig in ein „sicheres Umfeld“ zu entlassen – bevor sie dem Mangel an Mobilität und Eigeninitiative in einem Krankenhausbett durch die Verschlechterung ihres Allgemeinzustands Tribut zollen–, führt dazu, dass Patienten länger in der Notaufnahme bzw. im Krankenwagen vor der Notaufnahme warten müssen. Unzureichende Patientenversorgung in Notaufnahmen wird durch ein Versagen des Gesamtsystems bedingt – nicht notwendigerweise durch ein Versagen der Notaufnahme selbst. Ambulante Versorgung fehlt im Primärbereich (mit wenigen Pilotprojekten, die die Ausnahme von der Regel darstellen). Der Zugang zu Diagnostik erfordert die Überweisung durch einen Allgemeinmediziner in den Sekundärbereich anstatt – zumindest teilweise – bereits im Primärbereich abgedeckt zu werden. Das verzögert die Diagnosestellung und Behandlung von Patienten. Letztlich fehlen auch Fachkräfte – eine Problematik, die durch das britische Bildungssystem und das „Brexit-Gespenst“, das das Vereinigte Königreich als Arbeitsplatz für Nicht-Briten weniger attraktiv gemacht hat, verschärft wird.

Ineffizienzen, Fragmentierung, teure Krankenhausaufenthalte, fehlgeleitete Patientenströme – all das kommt einem aus Österreich bekannt vor. Und auch wenn man die Systeme sicher nicht eins zu eins vergleichen kann: Sehen Sie Parallelen, drohen uns gar britische Verhältnisse und was ist Ihrer Meinung nach zu tun?

Behrens: Ehrlich gesagt, in vielen Dingen ist das österreichische System nicht ganz so unähnlich dem britischen System – nicht geschockt sein, bitte! Unterschiede existieren bezüglich der Art der Finanzierung, des Volumens des derzeitigen Budgets, als Prozentsatz des jeweiligen BIPs, und der Tatsache, dass die Symptome eines kränkelnden Systems aufgrund der weniger angespannten finanziellen Situation in Österreich noch nicht (so gut) sichtbar sind wie jene in Großbritannien und Nordirland. Unsere Chance ist, dass Österreich ein kleines Land ist und integrative Lösungen tatsächlich durchsetzen könnte – sofern wir über genügend innovativen Geist verfügen. Die meisten Gefahren, die auch in Österreich beobachtet werden können – die Fragmentierung, die alternde Gesellschaft, der Fachkräftemangel, die dringend notwendige Umstrukturierung in der Versorgungsplanung bzw. der Primärversorgung etc. –, wurden ja bereits angesprochen. Eine Gefahr sehe ich darüber hinaus noch, zumindest im UK: In Zeiten knapper Budgets wird Effizienz besonders großgeschrieben.

Womit wir beim Schlagwort Value Based Healthcare wären …

Ja, „Value Based Healthcare“ heißt das Schlagwort allerorts. Verbesserte Effizienz kann in diesem Zusammenhang entweder über eine Qualitätssteigerung in der Versorgung, über verbesserte Effektivität, oder über eine Kostenreduktion erzielt werden. Leider wird zumeist der direkten Kürzung der Kosten der Vorzug gegeben. Essenziell wäre aber eine Steigerung der Servicequalität und damit weniger Nachversorgungsbedarf. Das brächte letztendlich auch die ersehnte Kostenreduktion mit sich (aber eben nicht sofort, sondern verzögert). Zu kurze Planungshorizonte laden im Gesundheitsbereich leider oftmals zu einem kontraproduktiven Zugang in puncto Effizienzverbesserung ein!

Und was können wir aus den Entwicklungen in Großbritannien lernen?

Behrens: Die Notwendigkeit, genau zu verstehen, was das Problem ist, und sich an Umstrukturierung bzw. Re-Design zu wagen, anstatt sich auf „Quick Fixes“ zu konzentrieren, die Ressourcen verschlingen, ohne eine nachhaltige Verbesserung zu erwirken. Die Notwendigkeit, das Social Care System effektiv zu finanzieren und den Fokus auf die Aufrechterhaltung von Gesundheit und wirksamen Gesundheitssystemen zu lenken, weg vom ausschließlichen Fokus auf Behandlung bereits bestehender Gesundheitsprobleme. Proaktives anstatt reaktives Handeln und Planen ist angesagt! Und es besteht Bedarf an spezifischen Fähigkeiten zur effektiven Planung und gegebenenfalls zur Unterstützung einer Systemumgestaltung. Hier hat der NHS enormen Aufholbedarf verglichen mit anderen „Industrien“ wie etwa dem Passagierflugverkehrswesen.

Zur Person

Doris A. Behrens Ist seit 2015 als „Research Associate/ Principal Mathematical Modeller“ in Wales tätig. Behrens studierte an der Technischen Universität Wien, wo sie sich auf Biomathematik und Operations Research (Venia Docendi) spezialisierte. Danach war sie an mehreren Universitäten im In- und Ausland tätig, unter anderem als Gastprofessorin an der Karl-Franzens-Universität in Graz.

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune