„Werde mich reinhängen, dass was weitergeht“

ALLGEMEINMEDIZIN – Seit Juni ist Dr. Edgar Wutscher Obmann der Bundessektion Allgemeinmedizin der Österreichischen Ärztekammer. Zeit für ein Interview mit der MT. Er fordert einen Facharzt für Allgemeinmedizin und mehr Wertschätzung, es geht aber auch immer wieder ums liebe Geld. (Medical Tribune 48/17) 

Medical Tribune: Hausärzte sind überlastet, laut einer Studie haben sie in Österreich pro Patient nur wenige Minuten Zeit. In Anbetracht rückläufiger Anzahl an Kassenverträgen und steigender Nachfrage durch Überalterung und Zuwanderung wird das nicht besser werden. Wie sehen Sie das?

Wutscher: „Umschichtung aus Ambulanzbetrieb heraus muss mit Auffettung der Finanzierung einhergehen.“
Wutscher: „Umschichtung aus Ambulanzbetrieb heraus muss mit Auffettung der Finanzierung einhergehen.“

Edgar Wutscher: Also ich glaube, dass es in Österreich kein Patient erleben wird, dass man ihm sagt: „Fünf Minuten sind vorbei, egal was du für ein Problem hast: Auf Wiederschauen.“ Aber natürlich gibt es einzelne Praxen, die überlastet sind. Das Problem lässt sich lösen, indem man versucht, vermehrt Kassenpraxen anzubieten. Die Ärztekammer fordert ja 1300 zusätzliche Kassenstellen. Aber man muss dazu die Kassenpraxis auch attraktiv gestalten.

Also eine attraktivere Honorierung?

Ich glaube, es wäre zu einfach, wenn man nur ums Geld jammert. Das zeigen auch Studien und Umfragen. Die Jungen, die in die Allgemeinmedizin gehen wollen, stellen die Geldfrage eher hintan. Viel wichtiger ist die Wertschätzung, die ein Allgemeinmediziner bekommt. Da muss man ansetzen. Das geht bis zum Facharzt für Allgemeinmedizin, der uns zusteht. Den könnte man im bestehenden Ausbildungssystem einführen und das würde auch nichts kosten. Da werde ich mich reinhängen, dass da wieder was weitergeht! Jedenfalls müssen die Fachgruppen akzeptieren, dass wir Allgemeinmediziner mit unserer breiten Ausbildung eine gute Basisversorgung bieten können. Dann gehen auch wieder mehr Leute in die Allgemeinmedizin.

Aber eine angemessene finanzielle Entlohnung ist doch auch eine Wertschätzung bzw. eine schlechte das Gegenteil. Wenn ein Hausarzt von der Kasse 29 Euro pro Patient für ein gesamtes Quartal bekommt – weit weniger als ein Facharzt – ist das nicht unbedingt motivierend …

Ja, das stimmt und es geht wirklich vor allem um die Wertschätzung. Wenn ich in Wien 29 Euro bekomme und ein anderer vielleicht 80 Euro, dann fühle ich mich zurückgesetzt. Ich bin nicht dem anderen neidisch. Aber wir sind genauso ein Fach, das eine hohe Ausbildungsqualität hat und das entsprechende Wertschätzung verdient. Das muss natürlich schrittweise angeglichen werden. Ich fürchte aber, das wird es nicht so bald spielen, dass auch wir 80 Euro bekommen.

So kann man kaum Wahlärzte in die Kassenpraxis locken, oder?

(lacht) Dafür müsste man die Bürokratie in der Kassenpraxis auch schlanker machen. Es sind heute so viele Dinge, die ich sinnlos machen muss – Arzneimittelbewilligungen, Bestätigungen. Das ist ein großer Zeitaufwand, mit dem sich der Wahlarzt nicht herumschlagen muss. Ich bin überzeugt, wenn man viele dieser bürokratischen Dinge, die in der Summe doch sehr lästig sind, reduziert, dass dann auch die Kassenpraxis wieder attraktiver wird – abgesehen von der Honorarsituation.

Attraktivität beginnt schon in der Ausbildung. Da gibt es ja offensichtlich auch Defizite. Was gehört verbessert?

Die Ausbildungssituation ist nicht schlecht, aber sie ist in der Tat verbesserungswürdig. Wichtig ist: Man muss die Ausbildung auf allgemeinmedizinisches Niveau bringen. Das bedeutet nicht, dass jemand in einem Krankenhaus Infusionsanhänger, Spritzengeber und Blutabnehmer ist. Sondern, dass man wieder einen praktisch mitarbeitenden Turnusarzt ausbildet. Ich bin zuversichtlich, dass wir jetzt mit der Änderung der Ausbildungsordnung und der verpflichtenden Lehrpraxis einen Riesenschritt nach vorne machen. Außerdem muss man kommunizieren, dass es in der Praxis dann auch viele neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit gibt. Die Jungen müssen nicht mehr wie wir Alten rund um die Uhr als Einzelkämpfer da sein. Sie schauen zu Recht auf ihre Work-Life-Balance – das lässt sich organisieren!

Womit wir bei den Primärversorgungseinheiten (PVE) wären, die jetzt forciert und gepriesen werden. Sind diese Ihrer Meinung nach interessant?

Ich glaube, dass die PVE eine vernünftige Daseinsberechtigung haben, keine Frage. Aber die Diskussion läuft in eine falsche, einschichtige Richtung. Die PVE werden als Lösung aller Probleme gepriesen und als wohnortnahe Versorgung praktisch rund um die Uhr. Wie das in einem Tiroler Tal funktionieren soll und wo da dann die wohnortnahe Versorgung ist, möchte ich wissen. Den Allgemeinmediziner wird es weiter geben müssen – als Einzelpraxis oder auch im Jobsharing in Gemeinschafts- oder Gruppenpraxen. PVE sind in manchen Bereichen und Gebieten sinnvoll, aber das einzig seligmachende Ding sind PVE nicht. Man muss alle Möglichkeiten der Versorgung ausnutzen. Ich glaube, wir brauchen einen Mix aus verschiedenen Formen und mehr Ehrlichkeit und Sachlichkeit in der Diskussion.

Und den Hausarzt als Gatekeeper?

Grundsätzlich halte ich es für richtig, dass der Allgemeinmediziner eine Gatekeeper-Funktion im Gesundheitssystem hat. Möglicherweise mit bestimmten Grenzen, sodass Patienten zu bestimmten Fachärzten auch direkt gehen können. Aber ansonsten bin ich von der Sinnhaftigkeit voll und ganz bei Ihnen. Ein Beispiel: Gestern sitzt mir eine junge Frau gegenüber und sagt, sie braucht eine Überweisung zum Hautfacharzt. Ich sage: Darf ich fragen, was hast du denn? Dann zeigt sie mir die Hände und hat ein klassisches Kontaktekzem, weil sie in der Gastronomie mit Putzmitteln arbeitet. Dann sage ich zu ihr: Du, ich kann dir jetzt eine Heilsalbe aufschreiben. Du hast ein Kontaktekzem und das geht damit weg. Oder ich kann dir eine Überweisung schreiben. Dann wirst du eher schwer einen Termin kriegen und der Hautarzt wird dir die gleiche Salbe aufschreiben. Und was meinen Sie, was sie gesagt hat? ,Ich möchte die Überweisung!‘

Wie kann man das ändern?

Das sind Unsinnigkeiten, die mir zu denken geben: Warum läuft die junge Frau lieber noch zehn Tage mit dem Ekzem herum? Und das, obwohl ich die Patientin kenne und sie mir eigentlich vertraut? Das ist die erste Stufe eines Systems, das ich nicht verstehe. Nur: Das müssen Sie erst politisch durchbringen. Wenn ich als Allgemeinmediziner heute sage: Ich bin der Größte und alle müssen zuerst einmal zu mir kommen, dann wird die Politik sagen: Das muss in Österreich frei bleiben. Dabei bin ich felsenfest davon überzeugt, dass den Fachärzten gleich viel Arbeit bliebe. Ähnlich ist es im Zusammenhang mit den Spitälern. Vieles in der Nachbehandlung könnten wir Hausärzte übernehmen. Man hört ja auch ständig, die Versorgung muss aus den Ambulanzen heraus – das ist dort zu teuer und die angebotene hochspezifische Medizin wird meist gar nicht gebraucht. Wenn wir das aber in die niedergelassene Medizin verlagern, haben wir das Problem der verschiedenen Finanzierungstöpfe.

Haben Sie die Hoffnung, dass das mit den neuen verbindlichen Strukturplänen besser wird?

Nein, klipp und klar, nein.

Müsste mehr Geld in den niedergelassenen Bereich fließen?

Will man aus dem Ambulanzbetrieb heraus umschichten, muss das mit einer Auffettung der Finanzierung einhergehen – das ist ja dann auch mehr Arbeit! Am Ende wäre das ein Plus für den Zahler, denn der Ambulanzbetrieb ist ja wirklich kostspielig und für viele Erstversorgungen und Erstuntersuchungen viel zu teuer. Ja, es braucht eine Verschiebung und erhöhte Dotierung im niedergelassenen Bereich.

Für PVE wird eine pauschalierte Honorierung umgesetzt. Was halten Sie davon?

Ich bin ein Gegner der Pauschalierung. Es gibt Rechenmodelle, die sagen, das wäre sinnvoll und die Ärzte steigen gut aus. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das System dabei den Bach hinunter geht. Denn was könnte geschehen? Bei Pauschalierung bin ich als Arzt vor allem daran interessiert, dass der Patient einmal zu mir kommt. Dann könnte ich sagen: nach mir die Sintflut. Natürlich würden das nicht alle so sehen, aber diskussionswürdig ist diese Gefahr. Das Einzelleistungssystem hingegen ist fair. Was ich anbiete, was ich mache, kann ich abrechnen. Und wenn ich mir dann ansehe, dass z.B. in einem Wiener PVE die Behandlungszahlen explodieren und die Pauschalierung nicht mehr kostendeckend ist, dann hat man dort das Problem auch nur verschoben.

Zur Person
MR Dr. Edgar Wutscher promovierte 1977 in Innsbruck und betreibt seit 1982 eine Kassen-Ordi für Allgemeinmedizin in Sölden/Tirol. Seit 1978 im Vorstand der ÄK Tirol, federführend beim Aufbau des Notarztsystems. Seit Juni 2017 ist Wutscher 1. Obmann-Stv. der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Obmann der Bundessektion Allgemeinmedizin der ÖÄK.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune