Steinhart: „Das Thema Hausarzt brennt“

Ärztekammer-Vize Dr. Johannes Steinhart erklärt, wie er den Hausarzt retten will und was er von Primärversorgungseinrichtungen (PVE) hält. Diese könnten zwar einiges leisten, sie hätten aber „enorme Komplexitätskurven“ und seien deshalb „keine günstigen Angebote“. (Medical Tribune 15/18)

Wie sind Sie mit der neuen Regierung zufrieden – das Thema Rauchen jetzt einmal ausgeklammert?

Johannes Steinhart: „Diesen Felsen stelle ich bewusst in den Fluss.“

Steinhart: Wir haben jetzt eine gute Gesprächsbasis, auch wenn ich nicht zum blinden Optimismus neige und wir schon auch unsere Diskussionen haben. Jetzt ist jedenfalls einmal eine Übereinkunft bei der E-Medikation gelungen, die zufriedenstellend ist und auch die Finanzierungsfrage klärt. Und es ist die Lehrpraxis gelungen, was wichtig ist und sehr lange gebraucht hat. Das ist zwar nur ein Aspekt des großen Themas Hausarztmangel, aber wir sehen gerade darin eine Möglichkeit, den medizinischen Nachwuchs früh in Verbindung mit dem Hausarzt-Beruf zu bringen. Bisher ist man bei der Übernahme der Ordination mehr oder weniger im freien Fall im Beruf gelandet. Die Lehrpraxis bietet jetzt die Möglichkeit, auch den ordinativen Teil des Berufs selbst zu erleben – und das Leben außerhalb der Großstadt und dabei vielleicht festzustellen: So schlecht lebt es sich in einer Kleinstadt oder Landgemeinde ja gar nicht. Das soziale Feedback auf die Tatsache, dass man als Ärztin oder Arzt für die Gesundheit der Bevölkerung zuständig zu, ist dort viel größer als in der Großstadt. Ich selbst war als junger Kurarzt in Gastein, das war sehr instruktiv und ich erinnere mich gerne daran.

Trotzdem wird es aber auch finanzielle Anreize brauchen, oder?

Steinhart: Selbstverständlich brauchen wir entsprechende Rahmenbedingungen: finanziell und organisatorisch. Auch die Kommunen werden wohl wieder das eine oder andere an Infrastruktur zur Verfügung stellen müssen. Leider hat der Hausarztberuf zudem eine Art chronische Erkrankung: die Bürokratie. Das ist für viele abschreckend. Junge Kolleginnen und Kollegen wollen am Patienten arbeiten, aber nicht drei Seiten lange Bewilligungen schreiben, Scheine ausfüllen, Anträge stellen. Doch gerade beim Hausarzt ist unglücklicherweise eine Art Bürokratie- Knotenpunkt entstanden, obwohl man dort alles so schlank wie möglich halten müsste. Hier etwas ändern bedeutet aber das Bohren dicker Bretter.

Bedeutet das angedachte Gatekeeping durch Allgemeinmediziner nicht eher noch mehr Bürokratie?

Steinhart: Darum dürfen wir den Fokus auf der Behandlung nicht vergessen. Die PVE haben enorme Komplexitätskurven. Von größerem Angebot bei mehr Qualität zu günstigeren Preisen kann da keine Rede sein. Jeder Manager weiß das, nur in der Gesundheit sollen immer andere Regeln gelten. Gruppenpraxen zum Beispiel haben keine Mengenvorteile, wie das viele Kassenfunktionäre glauben. Das ist nicht wie in einer Schraubenfabrik, wo die Kosten pro Schraube mit steigender Stückzahl immer niedriger werden. Der erste Patient beansprucht dieselbe Aufmerksamkeit wie der hundertste. Die Komplexität steigt schlagartig an, wenn man nur zwei Ärzte in eine Praxis setzt, und steigt exponentiell mit der Zahl der beteiligten Personen. In PVE werden deshalb Personalmanager gebraucht, um die Zusammenarbeit und Ressourcen- Nutzung zu organisieren. Das sind keine günstigen Angebote, das sind teure Angebote. PVE können ihre Qualitäten haben, es muss aber klar sein: Das bekommen wir nicht umsonst.

Die Gesundheitsministerin legt offenbar keinen gesteigerten Wert darauf, dass – wie ursprünglich geplant – bis Jahresende ein PVE-Gesamtvertrag abgeschlossen wird. Würde Sie das stören?

Steinhart: Ich brauche keinen. Wir haben bewiesen, dass es mit dem üblichen Gesamtvertrag gut geht. Das Einzige, was man beim PVE Mariahilf nachjustieren müsste, ist das Finanzielle, und das auch nur, weil es viel größer geworden ist als gedacht. Hinter den PVE stand im Übrigen nicht nur anfänglich das erklärte Ziel einiger Kassenfunktionäre und Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums, den Gesamtvertrag zu zerstören, denn der gibt uns die Vertretungsstärke, die wir haben. Die Vorstellung war bei den PVE ursprünglich, mit den Betreibern nur direkte Verträge abzuschließen. Ein Vorteil keines PVE-Gesamtvertrags könnte sein, bessere regional angepasste Modelle zu erarbeiten. Der Nachteil könnte sein, dass es keine vertragliche Absicherung gibt. Aber das Modell in Wien ist in jedem Fall auch ohne Gesamtvertrag gut abgesichert.

Was halten Sie unter dem Gesichtspunkt der Komplexität von der Kassenfusion und Harmonisierung der Honorare?

Steinhart: Bevor man die Honorare harmonisiert, muss man die Leistungen harmonisieren. Und das ist schon eine Challenge für sich. Man will das vielleicht in eher akademischen Diskussionen so nicht wahrhaben, aber Allgemeinmediziner in Sölden, in Oberpullendorf und in Simmering arbeiten in drei verschiedenen Welten. Der Arzt in Sölden wird gipsen, Wunden vernähen und er hat durch den Wintersport ein saisonales Arbeitsprofil, das wir in Wien – abgesehen von einer Grippewelle – gar nicht kennen. Man kann natürlich eine Grundleistung definieren, aber man wird immer Vertragsvarianten brauchen und in der Honorierung auf diese Unterschiede Rücksicht nehmen müssen.

Spielt die Honorierung in der Attraktivierung des Hausarztberufs nicht generell eine wichtige Rolle? Allgemeinmediziner klagen doch darüber, schlechter honoriert zu werden, als Fachärzte.

Steinhart: Bürokratie spielt eine Rolle, Zusammenarbeitsformen spielen eine Rolle und die Honorierung spielt natürlich auch eine Rolle. Am Land hat man mit der Hausapotheke eine gewisse Dämpfung. In den 80er Jahren war diese Differenz zu den Fachärzten noch nicht so groß. Dann kam eine Zeit, wo bis etwa 2004 die strategische Entscheidung getroffen wurde, die Fachärztehonorare über Sonderleistungen zu entwickeln – auch aufgrund immer besserer technischer Ausstattung der Ordinationen –, während die Vertreter der Allgemeinmediziner in Richtig von Pauschalen verhandelt haben und Einzelleistungen eher vernachlässigt wurden. In Wien verhandeln wir jetzt seit Jahren zwar erklecklich höhere Prozentsätze für die Allgemeinmedizin, schaffen es aber nicht, den damals getätigten strategischen Fehler wettzumachen. Darum fordere ich jetzt auch eine Honorarerhöhung von dreimal zehn Prozent für Allgemeinmediziner. Das wird auch ohne neue Sonderleistungen nötig sein, weil sich das System flächendeckend falsch entwickelt hat. Die Sozialversicherung wird helfen müssen, das zu korrigieren.

Wäre es vielleicht besser, gleich ganz auf ein pauschaliertes Honorarsystem umzusteigen?

Steinhart: Ich halte Pauschalierungen immer für problematisch. Von der Kasse wird dann kommen: „Das müssen Sie auch noch machen und das auch noch …“ Damit rutschen wir systematisch in eine Unterfinanzierung. Ein Teil der Problematik besteht darin, dass Hausärzte nicht dafür bezahlt werden, was sie tun! Die Leistung des Allgemeinmediziners liegt unter anderem in der Zuwendungsmedizin. Wir wollen deshalb, dass so viele Frequenzen wie möglich gut honoriert werden, denn damit bekommen wir das Geld für dorthin, wo die Leistung liegt. Und wir bekommen auch die unsinnigen Deckelungen in der Gesprächsmedizin weg. All das ist Ursache für viel Frust von Ärzten. Das ist natürlich ein Verhandlungsprozess, aber wenn wir das schaffen – neben der Lehrpraxis und dem Abbau von Bürokratie –, dann würde die Allgemeinpraxis schon viel attraktiver aussehen.

Wird sie nicht schon an der Uni und im Turnus zu wenig gewürdigt?

Steinhart: Sie haben vollkommen recht – wir müssen auch in der Ausbildung optimieren. Man muss die Spitäler motivieren, nicht nur Fachärzte, sondern auch Allgemeinmediziner auszubilden. Wir wissen, dass wir pro Jahr etwa 450 Allgemeinmediziner- Nachwuchs brauchen, ein Drittel müsste in Wien ausgebildet werden – momentan haben wir davon in Wien nach Jahrgängen gerechnet nicht einmal zehn Prozent in Ausbildung. Auf jeden Fall müssen wir uns sofort darum kümmern, denn das Thema Hausarzt brennt!

Für welche hausärztliche Organisationsform plädieren Sie?

Steinhart: Man muss das lokal angehen und ich glaube an den evolutionären Ansatz. Man sollte alles anbieten, was wir haben, weil es gibt für jede Lösung Patienten. Der eine geht lieber in eine kleinere Praxis, der andere bevorzugt ein Zentrum. Das gilt auch für die Ärzte: Wenn möglichst viele im niedergelassenen Bereich arbeiten sollen, dann muss ich ihnen eine möglichst große Vielfalt von Beschäftigungsvarianten anbieten. Eines darf man aber nicht unterschätzen: Zentren können gewisse Dinge besser anbieten, weil sie groß sind, länger offen haben usw. Aber: Es vermindert die Wohnortnähe, wenn nicht mehr in jedem Ort ein Arzt ist, sondern ein Zentrum viele Orte versorgt. Darunter leiden vor allem sozial Schwächere, die nicht so mobil sind, und natürlich ältere Menschen. Eine gute Kombination aus beidem sind Netzwerke. Denen gehört meiner Meinung nach eher die Zukunft. Das heißt: Man belässt die Einzelpraxis, aber man vernetzt die Leistungen. Daraus kann man ein System entwickeln. Ich glaube stark an Selbstorganisation.

Und den Arzt als Freiberufler?

Steinhart: Ja, der Arztberuf ist ein Freier Beruf, das gilt für Niedergelassene ebenso wie für Spitalsärzte. Das sehe ich nicht als Privileg, der Freiberufler Mediziner muss an erste Stelle immer medizinische Richtlinien stellen, er darf in medizinischen Fragen keine Anweisungen von Nichtmedizinern befolgen müssen. Ich möchte nicht in den Verdacht geraten, etwas verschrieben zu haben, weil ich dafür ein paar Cent mehr Honorar bekomme. So etwas zerstört Vertrauen. Nur diese Freiberuflichkeit wird in der Logik der heutigen Politik nicht sehr geschätzt, weil man, je nachdem, mehr Staats- oder Krankenkassenmedizin oder mehr Konzernisierungen durchsetzen will. Vielleicht auch eines nach dem anderen, private Großinvestoren stehen jedenfalls Schlange. Aber diesen Felsen stelle ich bewusst in den Fluss: Freiberuflichkeit ist auch gesellschaftspolitisch wichtig, wir brauchen mehr davon, auch in nichtärztlichen Gesundheitsberufen.

Zur Person
Dr. Johannes Steinhart
Steinhart ist 2. Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Obmann Bundeskurie Niedergelassene Ärzte. Er studierte Medizin in Wien, wo er eine Ausbildung zum Facharzt für Urologie absolvierte. In der Folge war er als Oberarzt an der urologischen Abteilung der Krankenanstalt Göttlicher Heiland tätig, 1992 bis 2015 als ärztlicher Leiter. Steinhart ist zudem Niedergelassener Facharzt für Urologie in Wien und seit den frühen 1990er Jahren für die Ärztekammer tätig.

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune