Medizin ist keine „Technik am Objekt“
Der Bioethik-Professor Giovanni Maio ruft Ärzte zum Widerstand gegen das „durchökonomisierte System“ auf – im Namen der Patienten. (Medical Tribune 14/2017)
„Hauptsache mehr, ganz gleich, welchen Inhalts“, das sei die Folge des modernen Effizienzdiktats in der Medizin, kritisiert der deutsche Mediziner, Philosoph und Bioethik-Professor Prof. Dr. Giovanni Maio. Doch eine „Fließbandproduktion von unoriginellen Fleißübungen“ sei mit ärztlicher Professionalität nicht zu vereinbaren. Seine Ausführungen bei der Jahreshauptversammlung der Gesellschaft der Ärzte in Wien gipfelten in einem Appell an die Ärzte, ihren sozialen Auftrag nicht zu verraten.
Ärzte werden zu Ingenieuren für Menschen gemacht
Das Grundproblem für Maio: Um größtmögliche Effizienz zu erzielen, greife das ökonomisierte System auf Normen aus der industriellen Massenproduktion zurück, Ärzte würden umdefiniert zu „Ingenieuren für den Menschen“, medizinische Behandlung werde missverstanden als „Technik am Objekt“ und reduziert auf das „Anlegen standardisierter Behandlungsschablonen“, so Maio. Aufgrund „technokratischer Steuerungsfantasien“ unterwerfe die Gesundheitspolitik die Medizin einer der Technik abgeschauten „Checklisten-Rationalität“, „die zu einer verhängnisvollen Überformalisierung, Überregulierung und Überbürokratisierung führt“.
Medizin jedoch sei „nie nur repetitiv“, so Maio, „weil jeder Patient anders ist und weil jedes Mal, wenn er neu kommt, die Situation anders ist“. Wenn ein Arzt zuhören müsse „in einem Kontext des Durchschleusens“, sei echte Begegnung, welche ja die Neugier auf Noch-nicht-Bekanntes voraussetze, nicht mehr möglich. Medizin aber verwirkliche sich „nicht allein durch das Abheben auf Prozessqualität, sondern vor allem durch das Verwirklichen von Beziehungsqualität“, betonte Maio.
Kernleistungen des Arztes sieht Maio zum einen in der Diagnostik als induktivem Prozess, bei dem Erfahrung eine große Rolle spiele und man auf Zusammenhänge kommen müsse, „die nicht restlos in Algorithmen abgebildet werden können“; zum anderen gehe es darum, die objektive Diagnose mit der subjektiven Lebenswelt des Patienten zu verbinden.
Sparerfolg wird vor therapeutischen Erfolg gestellt
Situationsunabhängig festgelegte Vorschriften seien daher mit ärztlicher Professionalität nicht zu vereinbaren. Durch die Bürokratisierung der Medizin würden die Kernkompetenzen des Arztes – Urteilskraft, Erfahrung, ärztliches Gespräch und Problemlösungskompetenz – für obsolet erklärt und auf technische Ausführungskompetenz reduziert. Leider würden die Arbeitsbedingungen für Ärzte „Zug und Zug schlechter“, kritisierte Maio: „Mir kommt es so vor, als würde das System, das – wie hier in Österreich – eine schematische Ausgabenobergrenze etabliert, insgeheim den Sparerfolg als den eigentlichen Erfolg ansehen und ihn vor den therapeutischen Erfolg stellen.“
Wenn jedoch „die Wegrationalisierung der Zeit, die Abschaffung der Zuwendung zum kranken Menschen“ überhandnähmen, so laufe man „Gefahr, der Medizin Zug und Zug ihre Seele auszutreiben“, so Maio. Die Medizin dürfe „dem kranken Menschen ihre soziale Antwort nicht schuldig bleiben – ganz gleich, was die Gesundheitsindustrie von den Ärzten verlangt“, forderte er, denn die Ärzte seien „die Anwälte ihrer Patienten“, und sie dürften „einem System, das sie daran hindert, für ihre Kranken da zu sein, nicht blindlings folgen“.