
Kommentar: Die Kunst des Verlierens
Manche Menschen sind 100 Jahre alt und nicht demenzkrank. Meine Großmutter zum Beispiel. Und manche Menschen bekommen mit 50 Jahren die Diagnose Morbus Alzheimer gestellt. Alice zum Beispiel, die Protagonistin aus dem Film „Still Alice“, nach dem Buch der Neurowissenschafterin Lisa Genova. Die Autorin zitiert dort auch ein Gedicht der amerikanischen Dichterin Elizabeth Bishop: „Die Kunst des Verlierens studiert man täglich./So vieles scheint bloß geschaffen, um verloren zu gehen und so ist sein Verlust nicht unerträglich./Lerne zu verlieren, Tag für Tag …“ Und ich möchte den Blick nicht wegen der Gehaltsneuverhandlungen von Ärztinnen und Ärzten auf das Verlieren lenken. Wir können in Österreich auf ein sehr zufriedenstellendes Gesundheitssystem blicken, auch wenn wir zahlreiche Kritikpunkte und Verbesserungsmöglichkeiten finden können.
Ich möchte den Blick auf Menschen lenken, die tagtäglich verlieren. Menschen, die aufgrund politischer Zustände aus ihren Herkunftsländern flüchten müssen und ihre Heimat verlieren. Menschen mit und ohne Flüchtlingsstatus und Aufenthaltsgenehmigung, die trotz allem ihr Überleben sichern müssen, ihre Gesundheit erhalten oder wiedererlangen wollen und unter extremen Bedingungen leben müssen – oft auch in unserem Öster-„reich“. Oder eben Menschen, die progredient Anteile ihres Gedächtnisses verlieren – mit allen Konsequenzen für ein selbstständig zu führendes Leben. In unseren Pflegeheimen sind durchschnittlich 60 bis 70 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner demenzkrank. Wir müssen in unserem Gesundheitssystem für all diese Menschen Bedingungen erhalten und verbessern, damit auch all diese Menschen, die sich unfreiwillig in der „Kunst des Verlierens“ üben, gut und menschenwürdig umsorgt werden können. Im Film „Still Alice“ kann man die Szene erleben, wie Alice nach einem vorgetragenen Text von ihrer Tochter gefragt wird: „Okay, was fühlst du?“ Und Alice antwortet: „Ich fühle Liebe. Es geht um Liebe. – Habe ich es richtig verstanden?“ Und die Tochter strahlt: „Das hast du, Mom. Du hast es genau richtig verstanden.“