Die Stadt, in der man nicht krank sein sollte
Laa an der Thaya hat alles, was man braucht, um aktuelle Probleme im Gesundheitssystem zu veranschaulichen: eine vakante Kassenstelle, keinen Nachwuchs, kein Spital – und bald noch einen Hausarzt weniger. (Medical Tribune 14/19)
„Sie kommen an einem lustigen Tag in meinem Leben: Ich habe heute die Kassenverträge gekündigt.“ Mit einem Grinsen gewährt Dr. Wolfgang Wiesinger der Medical Tribune Einlass in sein Haus. Das Funkeln in seinen Augen verrät, dass es sich hierbei weder um aufgesetzte Gastfreundschaft handelt noch um krampfhaft überspielte Sentimentalität. Nein, dieser Mann blickt der Tatsache, dass er im Juli in Pension gehen wird, offenkundig mit Freude entgegen. 36 Jahre lang hat Wiesinger als niedergelassener Allgemeinmediziner in der niederösterreichischen Stadt Laa an der Thaya praktiziert.
In unserer Pageflow Multimedia-Story nehmen wir Sie mit nach Laa an der Thaya. Erhalten Sie einen Einblick in die Praxis von Dr. Wiesinger, der uns in Videointerviews von seinen Erfahrungen mit den Krankenkassen erzählt, und hören Sie von Bürgermeisterin Brigitte Ribisch, warum viele Jungärzte keine Landärzte werden wollen.
In einigen Wochen ist Schluss. Und dann droht in seiner Heimatstadt die nächste Versorgungslücke. Die Stadt im nördlichen Weinviertel nahe der tschechischen Grenze hat einiges zu bieten: mehr als 6.000 Einwohner, zahlreiche Schulen (darunter eine Musikschule und ein Gymnasium) und ein Thermalbad, das 400.000 Besucher im Jahr anlockt. Aber Ärzte sind eher Mangelware. Kaum ein junger Mediziner will sich hier niederlassen. 20 Mal musste eine Landarztstelle im Ort ausgeschrieben werden, ehe sich eine ungarische Medizinerin fand, um diese Ordination zu übernehmen. Eine andere Kassenplanstelle in Laa ist immer noch vakant – und das laut Angaben der Ärztekammer Niederösterreich schon seit dem Jahr 2016.
30 Jahre Stillstand
Kein Stimmungsmacher für Wiesinger, der hofft, für seine Ordi einen Nachfolger zu finden. Dort hat man alles, was man als Hausarzt braucht: eine zentrale Lage im Ort, großzügige Räumlichkeiten und eine Kartei mit 12.000 Patienten aus all den Jahren. Wobei: Wiesinger hätte gern mehr Technik. „Es ärgert mich, dass man als Hausarzt von der Kasse so eingeschränkt wird und beispielsweise keinen Ultraschall verrechnen kann.“ Er zeigt sich „frustriert nach weit über 30 Jahren totalem technologischem Stillstand in der Allgemeinmedizin“. Generell habe sich der Beruf über die Jahre nicht vorteilhaft entwickelt, so Wiesinger, der auch über ausufernde Bürokratie klagt.
Und finanziell? „Man kann von einer Landarztpraxis sehr wohl leben“, erzählt Wiesinger und rechnet vor: „Wir reden hier von zehn Euro Umsatz pro Patient. Damit es sich rentiert, muss ich mindestens hundert Patienten am Tag behandeln.“ Sein persönlicher Rekord waren 280 Patienten an einem Tag. Dazu ist gutes Zeitmanagement unerlässlich. Wiesinger ist stolz darauf, dass kein Patient bei ihm länger als 15 Minuten warten muss. Freilich hat er kompetente Hilfe: Neben seiner Gattin hat er noch zwei Ordinationshilfen (eine Frau und einen Mann) angestellt. Diese bereiten die Patienten dann auch optimal vor, sodass der Doktor sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Stressig ist der Job dennoch.
Der Ärztemangel
Hier in Laa wird die gesamte Landarztproblematik anschaulich, vor der Systempartner warnen. „Der Ärztemangel in Österreich verschärft sich spürbar und messbar von Jahr zu Jahr“, sagt Dr. Johannes Steinhart, Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK). Die Altersverteilung der niedergelassenen Ärzteschaft habe sich zwischen 1998 und 2018 dramatisch verschoben. 1998 lag die höchste Konzentration bei etwa 45 Jahren, heute bei fast 60. „Wir haben ein eklatantes Nachwuchsproblem“, warnt auch ÖÄK-Präsident Dr. Thomas Szekeres, der in der Vorwoche die Ärztestatistik 2018 präsentierte. Lediglich 18,9 Prozent der Ärzte seien unter 35 Jahre, 29,7 Prozent jenseits der 55. Aus den 14.581 Ärzten, die in den nächsten zehn Jahren das Pensionsalter überschreiten werden, ergebe sich ein jährlicher Nachbesetzungsbedarf von 1.458 pro Jahr, allein um eine Aufrechterhaltung des Status quo zu gewährleisten.
Aber der Ärztebedarf wird in Zukunft noch ansteigen, weil die Bevölkerung wächst (auch in Laa) und älter und somit betreuungsintensiver wird. Der Nachwuchs reiche dafür nicht aus, wie Szekeres betont: „Früher war es einfach undenkbar, dass eine Kassenstelle mehrfach ausgeschrieben werden musste, was heute fast an der Tagesordnung ist.“ Besonders dramatisch ist die Situation bei den Kassenärzten. Von den Allgemeinmedizinern mit GKK-Vertrag wird jeder zweite in zehn Jahren das Pensionsalter erreicht haben. In Niederösterreich sind derzeit 29 allgemeinmedizinische Einzelpraxen ausgeschrieben, die meisten nicht zum ersten Mal.
Keiner will Landarzt werden
Es ist symptomatisch, dass sich die Laaer Bürgermeisterin mittlerweile eine gewisse Expertise in Sachen Gesundheitsversorgung und Landarztpraxen angeeignet hat. Das Thema beschäftigt sie seit geraumer Zeit. Warum wollen sich hier keine jungen Ärzte niederlassen? „Ich habe mit vielen Ärzten gesprochen und die meisten haben gesagt, praktischer Arzt ist nicht das, was sie so anstreben“, sagt Brigitte Ribisch. „In einer Landarztpraxis bedeutet das, 24 Stunden da zu sein. Und man ist für alles alleine verantwortlich, muss auch die gesamte Abrechnung machen. Dazu kommt, dass man bei einem Kassenvertrag in einem starren Korsett ist, vieles nicht anbieten darf. Und es fehlt ihnen bei uns vor allem auch die Hausapotheke.“ ÖÄK-Chef Szekeres glaubt zu wissen, was zu tun ist: „Unsere Forderung nach Attraktivierung von Kassenstellen, vor allem im ländlichen Bereich, liegt schon lange auf dem Tisch.“ Dabei gehe es nicht nur um die Bezahlung, sondern auch um Dinge wie Bürokratieabbau und das Setzen neuer Angebote für junge Ärztinnen und Ärzte.
Die Laaer Bürgermeisterin träumt indes von einem Primärversorgungszentrum (PHC) in ihrer Gemeinde, zumal die beiden nächstgelegenen Spitäler in Mistelbach und Hollabrunn doch relativ weit entfernt sind (etwa 25 bzw. 35 Kilometer). Die für ein PHC notwendigen drei Kassenstellen würde man mit jener von Dr. Wiesinger zusammenbekommen. Denn eine Stelle ist wie gesagt ohnehin vakant und Dr. Andrea Bori, die ungarische Ärztin, die sich hier niedergelassen hat, wäre laut Ribisch auch dabei. Wiesinger bezweifelt, dass sich ein PHC hier rechnen würde. Er möchte freilich auch die Räumlichkeiten seiner Ordination, die sich in seinem Haus befindet, an einen Nachfolger vermieten. Derzeit gibt es drei praktizierende Hausärzte in Laa: Wiesinger, Bori und einen Wahlarzt. Damit sei die Versorgung im Moment wieder geregelt, sagt Ribisch und berichtet, dass die Situation eine Zeit lang jedoch geradezu „unerträglich“ gewesen sei.
Der Doktor und das liebe Vieh
Zurück im Hause Wiesinger. Dort mischen zwei Hunde die Szenerie auf: die englischen Bulldoggen Lord Henry und Admiral Nelson. Apropos: Napoleon, dessen Flotte Nelson am Kap Trafalgar unterlegen war, hat hier in Laa 1809 einmal genächtigt. Aber das ist eine andere Geschichte. Beim Herrn des Haues macht sich inzwischen doch ein klein wenig Sentimentalität breit. Nach so vielen Jahren. Dies, zumal er den Beruf an sich stets geliebt hat. Menschen zu helfen, sie oft ein Leben lang zu begleiten, von Kindesbeinen an. Das sind die schönen Seiten des Berufes. „Ich bin ein Dinosaurier“, sagt der Doktor, wenn er daran denkt, wie lange er schon aktiv ist.
Ungewöhnliches Hobby
Und was wird Wiesinger machen, wenn er im Ruhestand ist? „Vor allem möchte ich meine Enkel aufwachsen sehen und das nachholen, was ich bei meinen eigenen Kindern leider verabsäumt habe“, sagt der 67-jährige Mediziner nachdenklich. Er will aber auch weiter arbeiten, hat sich als Wohnsitzarzt eintragen lassen, um Vertretungen übernehmen zu können. Und dann ist da noch dieses interessante Hobby: Wiesinger beschäftigt sich mit der Astronomie, ist Mitglied eines Vereins, für den er einen Astronomie-Blog schreibt. Politisch engagieren will sich der Landarzt nicht. Dabei hätte er viel zu sagen: Auf seiner Website bezeichnet er sich selbst als „unermüdlichen Querdenker“ im „sogenannten besten Gesundheitssystem der Welt“. Und er zeigt sich „enttäuscht, weil die Gesundheitspolitik blind und taub geworden ist und weil der Mensch im System der politischen Kostendenker und seelenlosen Statistiker nicht mehr zählt, sondern exklusiv das Geld“. Starker Tobak. Aber vielleicht weiß Wiesinger ja mehr. Schließlich steht die Zukunft des Landarztes mehr denn je in den Sternen.