16. Mai 2018

Volksanwaltschaft sieht Missstände in Altenheimen

Als dramatisch bewertet der Jahresbericht der Volksanwaltschaft die Lage in der Altenpflege. Bei Besuchen in Heimen wurde in 60 Prozent der Fälle eine „bedenkliche Medikation“ festgestellt. (Medical Tribune 20/18)

Die Kritik richtet sich nicht gegen das Personal, wie ausdrücklich betont wird. Schuld seien strukturelle Defizite.

„Dringenden Handlungsbedarf in der Pflege“ ortete die Volksanwaltschaft bei der Präsentation ihres aktuellen Jahresberichtes. „Würde man das Problem auf vereinzelte ,Missstände‘ oder ,schwarze Schafe‘ in der Branche zurückführen, so wäre das ein Verharmlosungsversuch, der die Dramatik der Lage verkennt“, ist im druckfrischen Jahresbericht 2017 zu lesen. Denn die Probleme seien struktureller Art. Bei rund 100 Besuchen in Altenund Pflegeheimen bot sich den interdisziplinären Experten-Kommissionen der Volksanwaltschaft im Vorjahr folgendes Bild: In 48 Prozent der Fälle war nicht genug diplomiertes Personal in der Nacht vorhanden, in 76 Prozent der Fälle wurde die Supervision als nicht ausreichend klassifiziert, in 58 Prozent der Fälle waren freiheitsbeschränkende Maßnahmen nicht ausreichend dokumentiert, und in 60 Prozent der Fälle stießen die interdisziplinären Experten-Teams auf eine „bedenkliche Medikation“.

„Kommissionen stellten bei Besuchen fest, dass Patientinnen und Patienten häufig mit zahlreichen und sehr unterschiedlichen Medikamenten behandelt werden, die unvorhersehbare und massive Wechselwirkungen zeigen“, berichtet die Volksanwaltschaft. „Kritisch sah die Kommission 1 für Tirol und Vorarlberg Verordnungen von Psychopharmaka, für die im Pflegeheim keine psychiatrische Diagnose auflag, zumal sich dafür nur folgende Indikationen fanden: ,Schluckauf‘, ,bei Übelkeit/Atemnot‘, ,vor dem Duschen‘, bei Unruhe, bei Sorgen, Kopfschmerzen, Druck im Kopf.“ Ausdrücklich betont wird, dass sich die Kritik nicht gegen Personen richte. Das Personal leiste „in der allermeisten Fällen sehr engagierte Arbeit, oft über die Grenze der persönlichen Belastbarkeit hinaus“, so die Volksanwaltschaft: „Ursache für Missstände sind regelmäßig strukturelle Defizite und Personalmangel.“

Unter den Empfehlungen ist im Bericht unter anderem zu lesen:

  • „Informed consent“ sei auch in Altenheimen zu beachten: „Unzulässig ist es, Medikamente unauffällig mit Nahrungsmitteln zu verabreichen, ohne dass Betroffene eine Zustimmung erteilt haben.“
  • „Das Verabreichen von Arzneimitteln stellt grundsätzlich eine ärztliche Tätigkeit dar, die an diplomiertes Pflegepersonal delegiert werden kann, wenn sowohl Menge, Dosis, Verabreichungsart als auch der Zeitpunkt der Verabreichung von den anordnungsberechtigten Ärztinnen und Ärzten schriftlich in der Patientendokumentation festgehalten wurde.“
  • Die Behandlung mit Psychopharmaka dürfe „erst einsetzen, wenn somatische, psychosoziale und umweltbezogene Ursachen eines ,problematischen‘ Verhaltens ausgeschlossen werden können und nicht medikamentöse pflegerische Maßnahmen erfolglos waren. Regelmäßige fachärztliche Visiten sind anzustreben.“
  • „Insbesondere die Verordnung von Benzodiazepinen und Antipsychotika ohne entsprechende Indikation bzw. ohne regelmäßige Evaluierung, ob eine weitere Verordnung notwendig ist, sollte unterbleiben.“
  • „Schmerzen im Alter müssen behandelt werden. Schmerz darf nicht als altersbedingt hingenommen werden. Um das zu gewährleisten, muss ein Schmerz-Assessment durchgeführt werden.“

Außerdem sei die freie Arztwahl auch in Heimen sicherzustellen, eine Facharztversorgung müsse „uneingeschränkt gewährleistet sein“, und fachärztliche und pflegerische Fallbesprechungen sollten etabliert werden, fordert die Volksanwaltschaft unter anderem.

Qualitätskontrolle auch im Privatbereich gefordert

Die Pflege-Kritik der Volksanwaltschaft beschränkt sich nicht auf den stationären Bereich, auch wenn ihr Mandat zur präventiven Menschenrechtskontrolle nicht Privathaushalten, sondern nur Einrichtungen gilt, die als „Orte der Freiheitsentziehung […]“ gelten. Vielmehr forderte Volksanwalt Dr. Günther Kräuter bei der Präsentation des Jahresberichtes auch dringend eine Verbesserung der Pflege im privaten Bereich, welche mit einer kleinen Pension und Pflegegeld für viele nicht erschwinglich sei: „Es ist die „absurde Situation entstanden, dass die Steuerzahler die teuerste Form, die Heimunterbringung, die von den Menschen gar nicht bevorzugt wird, voll finanzieren. Die gewünschte private und weitaus kostengünstigere Betreuung zu Hause dagegen nicht.“

Die gewünschte Stärkung der privaten Pflege beinhaltet für Kräuter einen Ausbau der mobilen Pflege, eine Erhöhung des Pflegegeldes um bis zu 30 Prozent (um die Nichtvalorisierung auszugleichen) und eine Qualitätskontrolle der 24-Stunden-Betreuung. In diesem Bereich, „wo rund 600 Agenturen mehr oder weniger qualitätvoll ihre Leistungen anbieten“, sei ein staatliches Gütesiegel erforderlich, „damit es hier nicht zu mehreren Opfern kommt: den betreuten Menschen und den Arbeitskräften aus dem Ausland“, so Kräuter. Überdies plädiert der Volksanwalt für unangekündigte Kontrollen durch diplomierte Krankenpflegekräfte „überall dort, wo man Pflegegeld auszahlt“.

Die Öffentlichkeit, die ja in Form von Pflegegeld in die private Pflege investiere, sollte sich einen Kontrollmechanismus schaffen, fordert Kräuter: „Das wäre der entscheidende präventive Faktor, um auch in den eigenen vier Wänden die Pflege menschenrechtlich sicherzustellen.“ Im Zusammenhang mit der von der Bundesregierung beschlossenen Indexierung der Familienbeihilfe warnte Kräuter vor einem möglichen Ausbleiben von Pflegepersonal aus dem Ausland, zumal auch in Deutschland und in den Herkunftsländern der Betreuerinnen ein Mangel an Pflegekräften herrsche. Dabei gehe es nicht nur um die 24-Stunden-Betreuung, so Kräuter: „Hier kann es auch Auswirkungen bis in den Krankenhausbereich und in die Alten- und Pflegeheime geben.“

https://volksanwaltschaft .gv.at/downloads/9l6jq/parlamentsbericht-2017-praeventivemenschenrechtskontrolle.pdf

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune