Sportverletzungen: Kompetenz statt Krise!
Eine lange Trainings- und Wettkampfpause oder gar das Karriereende infolge einer Sportverletzung kann für Athletinnen und Athleten in einer psychischen Krise münden. Es drohen Substanzmissbrauch, Spielsucht oder andere psychische Erkrankungen. Gute Kontakte zu Team, Trainerinnen und Trainern sowie sportpsychologische Unterstützung zeigen präventive Wirkung.
„Schließen Sie die Augen und denken Sie an eine besondere Fähigkeit; an etwas, das Sie sehr gut können und wofür Sie viel Anerkennung bekommen – und dann stellen Sie sich vor, diese Fähigkeit wird Ihnen genommen. Es gibt aber jemanden, der Sie in dieser Situation unterstützen kann.“ Mit diesem kurzen Gedankenexperiment demonstrierte die deutsche Sportpsychologin und Systemische Beraterin Dr. Kathrin Staufenbiel bei der Fachtagung des Österreichischen Bundesnetzwerks Sportpsychologie (ÖBS) Ende November in Rif, Salzburg, die emotionale Achterbahn, die Athletinnen und Athleten häufig nach einer Sportverletzung erfahren.
„Schon das Erleben im Moment der Verletzung hat große Auswirkungen auf die spätere Verarbeitung“, betont Staufenbiel. „Die betroffenen Sportlerinnen und Sportler sprechen von einem VORHER und einem NACHHER, denn sie erleben die Verletzung oft als massiven Einschnitt in ihrer Laufbahn.“ Was Athletinnen und Athleten in den ersten Momenten abseits der medizinischen Versorgung brauchen, ist vor allem die Sicherung ihrer psychischen Grundbedürfnisse nach Kontrolle und Sicherheit, ebenso wie nach sozialer Einbindung und Orientierung.
Soziales Netz fällt weg
Doch gerade in der Verletzungspause gibt es kaum Wertschätzung von Teamkolleginnen und -kollegen und/oder Trainerinnen und Trainern. Dabei drehte sich bis zur Verletzung alles im Leben um den Sport und das Team bildet ein wichtiges soziales Netz. Fällt dieses weg und kommen Unsicherheit über den Heilungsverlauf und die weitere Karriere hinzu, dann dies viele an ihre psychischen Grenzen bringen. Marian Deiser*, ein ehemaliger Nachwuchsspieler der deutschen Bundesliga, der sich mit 16 ein schwere Sprunggelenkverletzung zuzog, wirkt an dem Vortrag von Staufenbiel mit und bringt es auf den Punkt: „In der Schule sprachen alle nur über das letzte Spiel und ich konnte nicht mitreden, noch dazu ging ich auf Krücken. Auch hat mein Trainer in den 12 Monaten, in denen ich verletzt war, kein einziges Mal gefragt, wie es mir geht.“
Aus sportpsychologischer Perspektive bedeutet die Begleitung von Athletinnen und Athleten in der Phase der Behandlung bzw. Reha mitunter auch, an realen Erwartungshaltungen zu arbeiten. „Es kann sein, dass für den Athleten oder die Athletin der Wiedereinstieg in das Training ein sehr emotionaler Moment ist, für das Team ist es hingegen einfach ein Training wie jedes andere“, betont Staufenbiel.
Wie die Sportpsychologin gemeinsam mit Deiser demonstriert, geht es in der psychologischen Betreuung nach einer Sportverletzung auch darum, Ressourcen zu aktivieren und den Selbstwert zu stärken – ganz besonders dann, wenn die Verletzung das Karriereende bedeutet.
„Ich dachte vorher immer, ich kann nur Sport machen. Das stimmt aber nicht, ich kann viel mehr, und die Verletzung gab mir die Chance, mich weiterzuentwickeln“, sagt Deiser rückblickend. Der heute 22-Jährige hat seine Fußball-Karriere mittlerweile beendet, studiert aktuell Sportwissenschaften und sieht sein Ziel in der Ausbildung zum Sportpsychologen. Auch die Kränkung über den Ausschluss vom Team und die Missachtung des Trainers konnte er inzwischen gut einordnen und verarbeiten. „Damals war ich 16, also noch ein Kind, und da hätte ich schon viel Unterstützung gebraucht.“
Vorsicht vor Doktor-Shopping!
Dass es selbst Top-Athletinnen und -Athleten in der Phase der Verletzung oft auch an Orientierung im medizinischen System fehlt, unterstreicht Mag. Andrea Engleder, Klinische und Sportpsychologin sowie Psychotherapeutin und Leiterin des ÖBS-Kompetenzzentrums Wien. „In großen Sportverbänden gibt es zwar meist definierte medizinische Ansprechpartner, die im Fall einer Verletzung den gesamten Prozess bis zur Reha organisieren.
In Randsportarten werden Athletinnen und Athleten dagegen oft allein gelassen und kennen weder Ansprechpartner, noch finden sie sich in den Therapieangeboten zurecht.“ Was folgt, sind Zweifel an der ärztlichen Kompetenz und Phasen des „Doktor- und Physio-Shopping“ im vermeintlichen Glauben, eine noch bessere und schnellere Behandlung zu finden.
Engleder verweist zudem auf die enge Verflechtung von physischer und psychischer Gesundheit im Leistungssport. Fällt in einer Verletzungspause die Möglichkeit weg, Leistungen zu erbringen, so suchen Athletinnen und Athleten mitunter Möglichkeiten der Kompensation. „Das kann eine Essstörung sein, um ohne Training nur ja kein Gewicht zuzulegen, oder auch Spielsucht. Gerade Sportlerinnen und Sportler meinen, sie kennen sich bei Wetten besonders gut aus, da sie die Sportszene gut kennen“, berichtet die Wiener Sportpsychologin.
Alkohol- und Substanzmissbrauch oder riskantes Autofahren zählen ebenso zu Kompensationsversuchen, wenn verletzte Athletinnen und Athleten nach einem Umgang mit ihren starken Gefühlen suchen. „Es ist auch höchst an der Zeit, den Umgang mit Alkohol im Umfeld des Sports zu thematisieren. Alkohol dient Sportlerinnen und Sportlern sowie Trainerinnen und Trainern oft als einzige Möglichkeit, sich zu entspannen, sich wieder wohlzufühlen oder den Schmerz von negativen Emotionen erträglicher zu machen“, betont Engleder.
Sportpsychologinnen und -psychologen wie Staufenbiel und Engleder arbeiten während Verletzungsphasen mit Athletinnen und Athleten daher auch daran, deren Selbstwert zu stärken und Optimismus zu schüren. Auch Vorstellungstrainings erleichtern den Wiedereinstieg, idealerweise in Kombination mit medizinischen Informationen, aus denen deutlich wird, warum wann welche Belastungen wieder möglich sind.
Gesunde Psyche – gesunder Körper
Gut untersucht ist im Leistungssport auch der Zusammenhang zwischen mentaler Leistungsfähigkeit, psychischer Gesundheit und Verletzungsanfälligkeit: Ängste beim Wiedereinstieg etwa erhöhen das Risiko einer neuerlichen Verletzung. Auch im Umfeld von „Life Events“, die mit starken Sorgen und Ängsten einhergehen, ist die Verletzungsanfälligkeit erhöht und Athletinnen und Athleten fehlt es dafür oft an geeigneten Coping-Strategien.
Eine weitere Schwachstelle im Leistungssport ist die fehlende Gesundheitskompetenz im Hinblick auf die psychische Gesundheit: „Athletinnen und Athleten können kaum einschätzen, was noch gesund oder schon krank ist“, erklärt Engleder. „Sie glauben mitunter, alles aushalten zu müssen, auch was ihre Psyche angeht.“ Zu vermitteln, dass sie nicht alles aushalten müssten, sei daher immer wieder ein Thema in der sportpsychologischen Beratung. „Manchmal braucht es darüber hinaus Hilfe durch Medikamente, etwa wenn schon drückende suizidale Gedanken vorhanden sind. Mit psychopharmakologischer Unterstützung ist oft erst die psychologische bzw. psychotherapeutische Arbeit möglich, und es gibt ausreichend Wirkstoffe, die mit den Doping-Regeln vereinbar sind und die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigen“, erklärt Engleder.
Gemeinsam mit Sportpsychiaterin Dr. Katharina Hüfner thematisiert Mag. Andrea Engleder auch in Folge 20 des PARA:Sport-Podcasts das Thema Seelische Gesundheit im Spitzensport.
Kostenlose und unbürokratische Hilfe für österreichische Athletinnen und Athleten (Nationalkader-Status) in psychischen Krisen gibt es über das Projekt Wendepunkt des ÖBS. Hier helfen Sportpsycholg:innen mit klinischer/psychotherapeutischer Zusatzqualifikation.
Kontakt: wendepunkt@sportpsychologie.at
Alle gängigen Notrufnummern wie die Telefonseelsorge (Tel. 142) oder Rat auf Draht (Tel. 147) sind ebenso Ansprechstellen in psychischen Krisen wie Hausärztinnen und Hausärzte oder Spitalsambulanzen.
*Name geändert