
68 % der Transmissionen durch asymptomatische Tuberkulose
Trotz stetiger Fortschritte bleibt die Tuberkulose eine der weltweit bedeutendsten Infektionskrankheiten. Nicht, weil sie unheilbar ist – sondern, weil sie oft unentdeckt bleibt. Die Ursache dafür wurde jahrzehntelang unterschätzt: die asymptomatische Tuberkulose.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2015 in ihrer End-TB-Strategie ambitionierte Ziele formuliert: Bis 2030 sollen Todesfälle durch Tuberkulose um 90 % und die Inzidenz um 80 % sinken. Aktuelle Entwicklungen sind jedoch ernüchternd. 2023 wurden weltweit 8,2 Millionen Tuberkulosefälle gemeldet – die höchste jemals dokumentierte Meldezahl seit Beginn der Aufzeichnungen 1995. Die tatsächliche Inzidenz dürfte weitaus höher liegen, und ein erheblicher Teil entfällt auf Patientinnen und Patienten ohne typische Symptome.
Modellierungen aus historischen Daten der prä-antibiotischen Ära zeigen: Der natürliche Verlauf der Tuberkulose ist nicht linear, wie bisher angenommen. Das klassische Modell der Tuberkulose unterschied zwei klinische Zustände: latente oder aktive Tuberkulose. Inzwischen wissen wir, dass das falsch ist. Es existiert ein ganzes Spektrum biologischer Aktivität mit fließenden und dynamischen Übergängen zwischen latenter, asymptomatischer und symptomatischer Tuberkulose. Die Erkrankung kann progredient, regredient oder undulierend verlaufen. Die asymptomatische Tuberkulose ist dabei nicht bloß eine Übergangsphase zwischen Infektion und symptomatischer Tuberkulose, sondern kann über Jahre hinweg als eigenständiger Zustand stabil bestehen. Auch dass asymptomatische Verläufe erhebliche Risiken bergen, geht aus den Modellierungen hervor: Nach fünf Jahren liegt die Mortalität bei etwa 18 %.
Neue WHO-Definition
Im Oktober 2024 hat die WHO ein klares Signal gesetzt und ihre Falldefinitionskriterien für Tuberkulose grundlegend überarbeitet. In den neuen Definitionen wird die asymptomatische Tuberkulose als eigenständige Unterform der Tuberkulose-Erkrankung anerkannt – und damit erstmals systematisch erfasst.
Epidemiologische Analysen führen die Bedeutung dieses Schrittes eindrücklich vor Augen: Rund 50 % aller Personen mit nachweisbarer Tuberkulose berichten bei Diagnosestellung keine typischen Symptome. Daraus folgt, dass etwa die Hälfte der weltweiten Tuberkulosefälle bislang unentdeckt bleibt. Der Grund für dieses lange unterschätzte Problem liegt in der früher fehlenden Falldefinition. Unterschiedliche Kriterien und uneinheitliche Terminologien führten zu einer erheblichen Verzerrung der Surveillance.
Infektiosität auch bei ruhiger Atmung
Die entscheidende Frage lautet jedoch: Sind asymptomatische Patientinnen und Patienten infektiös? Die Antwort ist eindeutig – leider ja. Aufwendig durchgeführte Bioaerosol-Studien zeigen, dass auch beim ruhigen Atmen signifikante Mengen infektiöser Partikel freigesetzt werden. Diese Daten wurden für mathematische Modellberechnungen herangezogen – mit alarmierendem Ergebnis: Schätzungsweise 68 % aller Tuberkulose-Übertragungen weltweit gehen von asymptomatischen Fällen aus. Diese Personen fühlen sich gesund, nehmen am gesellschaftlichen Leben teil und tragen so unbemerkt zur Transmission bei. Die asymptomatische Tuberkulose dürfte somit einer der wichtigsten Treiber der globalen Epidemie sein.
Passive vs. aktive Fallfindung
Das derzeitige System der passiven Fallfindung – also das Warten, bis symptomatische Personen medizinische Hilfe aufsuchen – ist strukturell unzureichend, um dieses Problem zu adressieren. Studien zeigen, dass etwa 40 % der Neuerkrankten keinen Kontakt zum Gesundheitssystem aufnehmen. Zum Zeitpunkt der Diagnose sind viele Betroffene bereits bis zu zwei Jahre infektiös gewesen.
Aktive Fallfindung durch Community-Screening, insbesondere mittels Lungenröntgen, hat sich hingegen als deutlich effektiver erwiesen. In Ländern mit extrem hoher Tuberkulose-Prävalenz führten breit angelegte Röntgenscreenings zu signifikanten Rückgängen der Inzidenz. Moderne, ultraportable Röntgengeräte mit KI-gestützter Bildauswertung (Computer-Aided Detection Systems) erreichen heute Sensitivitäten von über 90 % und werden zunehmend auch in ressourcenarmen Regionen eingesetzt.
Therapeutisches Vorgehen bleibt weiter unklar
Das therapeutische Vorgehen bei asymptomatischer Tuberkulose bleibt unklar. Eine Behandlung analog zur latenten Tuberkulose dürfte unzureichend sein, eine vollständige Vierfachtherapie hingegen zu einer Übertherapie führen. Erste Antworten soll das RADIO-TB-Trial liefern – eine randomisiert-kontrollierte Studie in Pakistan, Südafrika und Simbabwe, die verschiedene Kurzregime über zwei bis sechs Monate untersucht. Der Studienstart ist für Ende 2025 geplant.
Das Konzept der latenten Tuberkulose – definiert über einen positiven Tuberkulose-Hauttest (TST) oder Interferon-Gamma-Release-Assay (IGRA) – scheint somit überholt. Es beschreibt keine pathophysiologische Entität, sondern lediglich eine Immunreaktivität gegen Mykobakterien. Solche Tests unterscheiden nicht zwischen einer überstandenen und einer noch aktiven Infektion. Aktuellen Schätzungen zufolge haben zwar 23 % der Weltbevölkerung eine Immunreaktivität gegen Mykobakterien, jedoch nur etwa 5–8 % der Personen eine Infektion mit tatsächlich viablen (lebensfähigen) Mykobakterien. Für die Bekämpfung der Transmission wäre es entscheidend, genau diese Gruppe zu identifizieren – also jene mit viabler Tuberkulose, nicht bloß mit immunologischer Reaktion.
Aktuelle Schätzungen zeichnen somit ein ernüchterndes Bild. Wir werden die Tuberkulose nicht besiegen können, solange wir sie nicht finden. Doch durch die Arbeit zahlreicher wissenschaftlicher Gruppen und internationaler Programme ist das Problem nun klar benannt – und damit adressierbar. In den kommenden Jahren ist mit neuen Daten und Erkenntnissen zu rechnen, die uns dem Ziel der globalen Tuberkulose-Eliminierung hoffentlich einen entscheidenden Schritt näherbringen.
Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP), Linz, 16.–18.10.25