14. Mai 2025Komorbide somatische und psychische Störungen

Anorexia nervosa: Geringes Krankheitsgefühl verzögert Therapie über Jahre

Lange unbehandelt, oft verkannt: Anorexia nervosa geht mit hoher Komorbidität, hohem Chronifizierungsrisiko und der höchsten Mortalitätsrate unter den psychischen Erkrankungen einher. Warum frühe Intervention entscheidend ist, welche Rolle starvationsbedingte Symptome spielen – und wieso neue Trends wie Pregorexie alarmieren.

Konzept Anorexia nervosa.
Abbildung: Kislinka_K/stock.adobe.com
Vielen Betroffenen ist nicht bewusst, wie gravierend und lebensbedohlch Anorexia nervosa sein kann.

Die Anorexia nervosa tritt mit einer Lebenszeitprävalenz von 0,3–2,6 Prozent auf. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr, wobei Frauen zehnmal häufiger betroffen sind.

Patientinnen und Patienten haben lange Zeit ein geringes Krankheitsgefühl. Dies trägt zu einer Behandlungslatenz von 2,5–6 Jahren bei. Besonders problematisch ist die Ambivalenz der Betroffenen gegenüber einer Therapie, berichtet Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck (1).

Ein hohes Risiko für Chronifizierung, eine hohe Rate an Rückfällen nach Therapie und komorbide psychische und körperliche Erkrankungen sind charakteristisch für die Anorexia nervosa, die unter den psychischen Erkrankungen die höchste Mortalität aufweist. „Es existieren unterschiedliche Zahlen über den Zeitraum zwischen dem Auftreten erster Symptome und dem Beginn einer Behandlung. Fest steht jedoch, dass eine späte Intervention das Risiko einer Chronifizierung erhöht“, erklärt Prof. Voderholzer.

Betroffene über somatische Folgen aufklären

Der Vorsitzende der Sektion Eating Disorders der World Psychiatric Association (WPA) betont, dass eine umfassende Kenntnis der körperlichen Folgen dieser Erkrankung für alle in der Behandlung tätigen Fachkräfte wesentlich ist. Zu diesen gehören unter anderem

  • Haarausfall
  • Durchblutungsstörungen
  • Ödeme Perikarderguss
  • Bradykardie
  • Osteoporose
  • reversible Hirnatrophie

Das Bewusstsein über die potenziellen Langzeitfolgen könne die Motivation und Behandlungsbereitschaft der Patientinnen und Patienten für eine Therapie erheblich steigern. Prof. Voderholzer: „Viele Betroffene sind sich nicht bewusst, wie gravierend und lebensbedrohlich die Anorexia Nervosa sein kann.“

Psychiatrische Komorbiditäten

Psychische Erkrankungen treten selten isoliert auf, Komorbiditäten sind dabei die Regel und nicht die Ausnahme. Für die Anorexia nervosa trifft dies ebenso zu. Sehr häufig sind mit > 50 % depressive Störungen mit Essstörungen assoziiert, gefolgt von Zwangsstörungen, Angststörungen, posttraumatischer Belastungsstörung und Borderline Persönlichkeitsstörung, berichtet der Referent von einer noch nicht publizierten Studie mit über 1.600 Betroffenen der Schön Klinik Roseneck.

Starvationsbedingte Psychopathologie

Weitere Untersuchungen zeigen, dass bei hochkalorischer Wiederernährung mit der Zunahme des BMI ein Rückgang von Depressivität, Ängstlichkeit und somatischen Beschwerden von Aufnahme zu Entlassung zu beobachten sei. „Ein Teil der Psychopathologie der AN ist starvationsbedingt, mit der Therapie bessern sich etwa auch depressive Symptome. Dadurch kommt es aber auch wieder zum Erleben von stärkeren Gefühlen. Dies kann insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit Traumaanamnese und/oder emotional-instabiler Persönlichkeit in Form emotionaler Krisen relevant werden.“

Neben psychosozialen Faktoren spielt auch eine genetische Disposition eine Rolle. So sind genetische Zusammenhänge zwischen Anorexia nervosa und Zwangsstörungen, Depression und Angststörungen belegt (2).

Pregorexia: ein besorgniserregender Trend

Ein neuer, besorgniserregender Trend ist die sogenannte Pregorexia (zusammengesetzt aus den Wörten Pregnancy und Anorexia). Bei dieser Essstörung versuchen Frauen durch extreme Diät- und Trainingspläne eine Gewichtszunahme während der Schwangerschaft zu vermeiden und die Körperform unter Kontrolle zu halten. Dies kann allerdings zu ernsthaften gesundheitlichen Risiken für Mutter und Kind führen.

Zwar sei bekannt, so der Referent, dass eine bestehende Anorexia nervosa die Wahrscheinlichkeit einer späteren Schwangerschaft erheblich verringert. Sollte dennoch eine Schwangerschaft eintreten und die Essstörung weiterhin bestehen, kann dies das Essverhalten negativ beeinflussen.

Psychologische Faktoren wie eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers, die Sorge um sichtbare Schwangerschaftsanzeichen und die Angst vor einer Gewichtszunahme wurden u.a. als Ursachen für die Prägorexie identifiziert.