9. Dez. 2024Smart (ohne) phone!

Kindesentwicklung durch Handy, Tablet und Co. in Gefahr?

Wie beeinflussen digitale Medien die Entwicklung von Kindern und Kleinkindern? Dieser Frage wurde beim Kongress der Steirischen Akademie für Allgemeinmedizin in Graz nachgegangen. Die Antwort ist erschütternd: Ein Übermaß an Medienkonsum vor allem in jungen Jahren kann die gesunde Entwicklung auf körperlicher, geistiger und sozialer Ebene massiv beeinträchtigen.

Mutter zeigt Video auf Smartphone, während sie ihr Baby im Hochstuhl füttert.
Foto: Кирилл Рыжов/AdobeStock

Die Liste der Folgen eines übermäßigen Medienkonsums ist lang: Sie reicht von Ein- und Durchschlafstörungen über Probleme mit der Aufmerksamkeit, dem Erlernen der Sprache, der Entwicklung des Denkens und der Bewegungsentwicklung bis hin zu schweren Defiziten in sozialen Bereichen. Auch neue Beobachtungen haben im digitalen Zeitalter Einzug in die Kinderarztpraxen gehalten: Handynacken, Touchscreenfinger, Handydaumen, Mausarm, progediente Myopie und Pseudoautismus.

Kinder unter drei Jahren sollten gar keine digitalen Medien konsumieren, von drei bis sechs Jahren sollten es nicht mehr als 30 Minuten pro Tag sein. «Wichtig ist auch, dass man genau überlegt, was die Kinder konsumieren – möglichst immer in Begleitung der Eltern – und dass man mit den Kindern über die Inhalte spricht», erklärt Dr. Arnika Thiede, Kinderärztin mit Schwerpunkt Entwicklungs- und Sozialpädiatrie bei den Barmherzigen Brüdern in Linz. Gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem Klinischen Psychologen Christoph Rosenthaler,MSc, hat sie ein Projekt namens «Smart (ohne) phone» ins Leben gerufen. Es handelt sich um einen interaktiven Workshop zum Umgang mit digitalen Medien von klein auf, den Eltern im Rahmen der Geburtsvorbereitung besuchen können. Werdende Eltern werden hier über die negativen Folgen von übermäßigem Gebrauch digitaler Medien bei den Kleinsten (bis drei Jahre) und darüber hinaus aufgeklärt.

Sprache, soziale Kompetenz und Aufmerksamkeit

Ein Medienkonsum von mehr als zwei Stunden pro Tag ist mit einem gehäuften Auftreten von Störungen der Sprachentwicklung assoziiert, schlicht weil die Zeit vor dem Bildschirm auf Kosten der Face-to-Face-Interaktionen geht, gibt Rosenthaler zu bedenken. «Weniger Eltern-Kind-Zeit und Spielzeit bedeuten weniger Sprach- und Kommunikationserfahrung», so der Klinische Psychologe. In Zusammenhang mit erhöhtem Bildschirmkonsum werden Störungen in der neuronalen Entwicklung der weißen Substanz mit Einfluss u. a. auf die Sprachentwicklung und die Schriftsprache diskutiert.

Ebenso existieren Zusammenhänge zwischen erhöhter Bildschirmzeit und Defiziten in der sozialen Kompetenz. Hier überlappen sich mitunter die Symptombereiche, die bei massiv erhöhtem Medienkonsum und Autismus-Spektrum-Störungen auftreten (Pseudo-Autismus). «Je früher und länger der digitale Medienkonsum, desto höher das Risiko für die Entwicklung von Autismus-Symptomen», so Rosenthaler. Pathogenetisch könnte eine Überstimulation des audiovisuellen Kanals zu einer spezialisierten (nicht-sozialen) sensorischen Verarbeitung im Gehirn führen.

Ähnliches gilt für ADHS: Bildschirmzeiten über zwei Stunden pro Tag erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose. Dabei wird der Medienkonsum als möglicher «Umwelt-Risikofaktor» für ADHS gewertet. Pathogenetisch spielen Defizite im Transmitter-Haushalt (Dopamin, Acetylcholin, GABA und Serotonin) eine Rolle. Auch andere Hormonsysteme werden durch erhöhten Medienkonsum in Mitleidenschaft gezogen. So kommt es etwa zu erhöhter Cortisol- und Adrenalin-Ausschüttung und einer Veränderung der zirkadianen Melatonin-Ausschüttung. Das bedingt wiederum Stressreaktionen und Schlafstörungen, die bei Kindern mit hohem Medienkonsum immer häufiger vorkommen.

Auswirkungen auf Motorik und Gewicht

Leider herrscht bei Kindern, die einem hohen Medienkonsum ausgesetzt sind, auch wenig Interesse, sich motorische Fähigkeiten wie Laufen, Radfahren und Schwimmen anzueignen. Erlernte Fähigkeiten verkümmern mitunter wieder, verminderter Muskeltonus führt zu Haltungsschäden und Schmerzen. Durch mangelnde Bewegung kommt es zu Übergewicht mit all seinen Folgen. Oft entwickelt sich auch eine Konditionierung in dem Sinn, dass Bildschirmgebrauch und Essen zusammengehören. Essen vor dem Bildschirm verhindert bewusstes Geschmackserleben und Genuss, das Sättigungsgefühl bleibt aus.

Ein weiteres großes Problem erhöhten Medienkonsums, das vor allem in Asien bereits riesige Ausmaße angenommen hat, ist die progrediente Myopie im Kindesalter. Damit geht eine zunehmende Gefahr der Netzhautablösung und eine Sehbeeinträchtigung im späteren Leben einher. Weitere Folgen des frühen exzessiven 2D-Sehens sind eine eingeschränkte 3D-Wahrnehmung und mangelndes Stereosehen.

Chancen nutzen, aber lieber im Spiel

Und wie sieht es mit Lern-Apps aus? Profitieren Kinder davon? Pädagogische Inhalte sind erst ab einem Alter von sechs Jahren sinnvoll, lautet die einhellige Meinung der beiden Experten. Sie sehen keine Entwicklungschancen durch digitale Medien im Altersbereich von null bis sechs Jahren. Lernen geht besser beim Spielen oder bei der Exploration der Umwelt mit den Eltern. Gemeinsames Bücheranschauen und -lesen sind eine gute Quelle der Sprachförderung. Langeweile fördert die Kreativität!

Das Fazit: Möglichst wenig digitales Medienangebot für Kinder unter drei Jahren. Ab drei Jahren kann ein zeitlich begrenztes und vor allem begleitetes Medienangebot stattfinden. Die Inhalte sollten immer individuell beurteilt werden. Nicht alles, was ab sechs Jahren freigegeben ist, ist auch tatsächlich geeignet für das eigene Kind. Und nicht zuletzt sollten Eltern ihren Kindern ein gutes Vorbild sein, was den digitalen Medienkonsum betrifft!

Factbox Medienkonsum bei Kindern:

  • 66 % der 1- bis 2-Jährigen verbringen regelmäßig Zeit am Handy, Tablet oder TV (durchschnittlich 1–2 Stunden am Tag laut Elternangabe)
  • 40 % der 2- bis 3-Jährigen können ein Handyspiel selbstständig bedienen
  • 50 % der 2- bis 3-Jährigen finden alleine den Weg zu YouTube
  • 44 % der 5- bis 6-Jährigen können einen Touchscreen bedienen, sich aber nicht selbstständig an- und ausziehen oder mit Besteck essen

Schließlich ermutigt Dr. Thiede ihre Kolleginnen und Kollegen im Publikum, in der Anamnese das Erheben des digitalen Medienkonsums nicht zu vergessen – gerade, wenn Kinder mit Haltungsschäden, (Kopf-)Schmerzen, Schlafstörungen oder Übergewicht in die Praxis kommen. Eine Kollegin aus dem Publikum regt sogar an, einen Fragebogen zu etablieren, in dem die Gewohnheiten des Medienkonsums dokumentiert werden – ähnlich, wie es im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung für den Alkoholkonsum gehandhabt wird.

Die Veranstaltungen der Elternakademie des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie (ISSN) finden Sie hier.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune