Sexuelle Dysfunktion ansprechen und effektiv behandeln
Eine gering ausgeprägte Libido bzw. sexuelle Erregbarkeit sind per se nichts Pathologisches. Sie bekommt erst dann Krankheitswert, wenn die Betroffenen darunter leiden. Dann aber heißt es, Ursachenforschung zu betreiben und, falls erforderlich, multimodal zu behandeln.
Die sexuelle Reaktionsfähigkeit der Frau – aber auch des Mannes – wird durch ein komplexes Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beeinflusst. Klagt eine Patientin über Probleme wie mangelnde Libido oder geringe sexuelle Erregbarkeit, kann eine Menge dafür verantwortlich sein. Man sollte daher möglichst viele damit assoziierbare Faktoren in den Fokus nehmen und therapeutisch adressieren, schreibt Prof. Dr. Susan Davis, Monash University, Melbourne.
Allerdings sprechen noch nicht einmal 50% der Frauen ihre sexuellen Nöte von sich aus an. Das bedeutet, es ist die Aufgabe des Arztes bzw. der Ärztin, anamnestisch aktiv zu werden. Offene Fragen helfen dabei, einer etwaigen sexuellen Dysfunktion auf die Spur zu kommen. Für die weitere Abklärung schlägt die Kollegin eine Checkliste vor, die die folgenden Punkte berücksichtigt.
- Biologische und hormonelle Faktoren. Liegt bei der Patientin ein Mangel an Sexualhormonen oder eine organische Erkrankung vor? Wie steht es mit der Kontinenz? Gibt es Zeichen für eine Depression, für Fatigue, Alkohol- oder Drogensucht? Welche (rezeptfreien) Medikamente nimmt die Frau ein?
- Intrapersonelle Entwicklung. Sexuelle, physische, emotionale, aber auch medizinische Traumata können zu einer sexuellen Dysfunktion beitragen. Gleiches gilt für negative Emotionen wie Angst, Furcht, Scham und Schuldgefühle sowie ein negatives Körperbild. Geschlechtsidentität und Bildungsgrad spielen ebenfalls eine Rolle.
- Negative Erwartungshaltung. Erlebter schmerzhafter oder enttäuschender Sex sind weitere Faktoren, die potenziell zu Störungen im Sexualleben führen.
- Interpersonelle Aspekte. Besteht eine Partnerschaft? Gibt es Streit in der Beziehung oder mangelt es an emotionaler Nähe?
- Kontextuelle Faktoren. Zu diesen gehören u. a. das Nichtvorhandensein von Privatsphäre, Sicherheitsbedenken, kulturelle Normen und religiöse Überzeugungen.
- Fehlen adäquater Stimuli. Ist die bessere Hälfte erkrankt oder liegt dort ebenfalls eine sexuelle Dysfunktion vor? Und weiß die Patientin überhaupt, auf welche Weise sexuelle Stimulation gelingen kann?
Sind die potenziellen Ursachen der sexuellen Dysfunktion und relevante Einflussfaktoren identifiziert, richtet sich die Therapie vor allem nach den Wünschen, aber auch Bedenken der Patientin, ihrer körperlichen und mentalen Gesundheit sowie sozialen Faktoren. Es kann sinnvoll sein, den Partner bzw. die Partnerin in die Behandlung miteinzubeziehen, schreibt Davis.
Falls möglich, sollte man eine Medikation, die die Sexualfunktionen beeinträchtigt (u.a. Antidepressiva, Antihypertensiva, kombinierte orale Kontrazeptiva) absetzen bzw. umstellen. Lebensstilmodifikationen haben sich bei Patientinnen mit Diabetes und Adipositas auch im Hinblick auf eine sexuelle Dysfunktion als hilfreich erwiesen. Psychosoziale Interventionen umfassen Sexual- und Paarberatung, Förderung der Körperwahrnehmung und kognitive Therapien. Eventuell ist die Überweisung zu einem Psychologen nötig.
Manche Frauen profitieren von einem Entspannungstraining für den Beckenboden, von vaginalen Dilatatoren (bei Vaginismus), Klitorisstimulatoren bzw. -vibratoren (bei Arousalstörungen). Bei trockener Scheide, Juckreiz und Schmerzen bietet sich die Anwendung von Feuchtigkeitscremes für die Vagina an. Bei postmenopausalen Frauen bessert sich eine durch Östrogenmangel bedingte Dyspareunie unter der topischen Applikation von Estradiol bzw. Estriol via Creme, Vaginaltablette oder Ring. Prasteron wird in Form von Vaginalzäpfchen zur Behandlung vulvärer und vaginaler Atrophie bei postmenopausalen Frauen mit mittelschweren bis schweren Symptomen eingesetzt. Oral kann man in solchen Fällen den selektiven Östrogenrezeptor-Modulator Ospemifen verordnen.
Frauen in den Wechseljahren, die neben heftigen typischen Symptomen über eine sexuelle Dysfunktion klagen, können von einer Hormonersatztherapie in doppelter Hinsicht profitieren.
Auch eine Frage des Alters
Wie häufig eine sexuelle Dysfunktion bei Frauen auftritt, ist nicht genau bekannt. Die in Studien gewonnenen Prävalenzdaten unterscheiden sich in Abhängigkeit von Störungsdefinition und Fragestellung. Eine deutsche Arbeit von 2020 (n=2059) ermittelte auf Basis des ICD-11 bei 19,4% der befragten 18- bis 24-Jährigen eine geringe Libido. In der Altersgruppe 46–55 Jahre lag die Rate bei 31,5%.
Eine hypoaktive Sexualfunktionsstörung (Hypoactive Sexual Desire Disorder, HSDD) mit schwerem Leidensdruck in den vorangegangenen 12 Monaten gaben 6,2% bzw. 7,3% der Frauen an. Eine deutlich größere populationsbasierte Studie aus Australien (n = 10 554) ermittelte in den o.g. Altersgruppen in puncto geringe Libido eine Prävalenz von 27,4% bzw. 58,9%. Für eine HSDD betrug die Häufigkeit 12,2% sowie 31,6%. Wie Davis darlegt, stieg in beiden Studien die Prävalenz des Libidomangels mit dem Älterwerden weiter an. Die der HSDD nahm dagegen in den höheren Altersgruppen ab 65 Jahren wieder ab.
Eine hypoaktive Sexualfunktionsstörung (Hypoactive Sexual Desire Disorder, HSDD) kann bei prämenopausalen Frauen mit Flibanserin oder Bremelanotid behandelt werden. Postmenopausale Frauen mit HSDD erhalten zumindest in den USA häufig transdermal Testosteron (1%) in einer Tagesdosis von 0,5–1ml Creme pro Tag. Allerdings ist diese Therapie nicht unumstritten und off label. Die so behandelten Frauen müssen im Hinblick auf Akne, vermehrtes Haarwachstum und Gewichtszunahme kontrolliert werden.
Noch wenig Evidenz gibt es zur medikamentösen Therapie der genitalen Arousalstörung mit Sildenafil (Einnahme von 50mg vor dem Verkehr) bei rückenmarkgeschädigten Patientinnen sowie Frauen mit antidepressivaassoziierter Störung. Gleiches gilt für die regelmäßige Einnahme von Tadalafil (5mg/d) bei einer genitalen Arousalstörung im Rahmen eines Typ-1-Diabetes.
Sexuelle Dysfunktion der Frau nach ICD-11
Die ICD-11-Diagnoseleitlinien unterteilen die sexuelle Dysfunktion der Frau in vier Gruppen:
- Dysfunktion des sexuellen Verlangens (Hypoactive Sexual Desire Dysfunction, HSDD)
- Dysfunktion der sexuellen Erregung
- Dysfunktion des Orgasmus
- andere oder nichtspezifizierte Dysfunktionen
Damit eine Diagnose gestellt werden kann, müssen die Symptome episodisch oder persistierend über mehrere Monate auftreten und für die Frau belastend sein.
Störungen wie die sexuelle Schmerz-Penetrationsstörung und die persistierende genitale Erregung sind im ICD-11 separat klassifiziert.