31. Okt. 2023Prävention sexueller Übergriffe im Sport

„Es braucht einen Verhaltenskodex für Vereine und Verbände“

Um Kinder und Jugendliche im Nachwuchs-Sport vor potenziellen Tätern zu schützen, sind Hellhörigkeit und klare Spielregeln gefragt. Ärztinnen und Ärzte sollten jedenfalls nachfragen, wenn junge Sporttreibende bei Untersuchungen vor Berührungen zurückschrecken, betont die Sportwissenschafterin und Forensische Psychologin, Mag. Chris Karl, MA.

High Angle View Of A Businessperson Stopping Colorful Dominoes From Falling On Desk
Andrey Popov/AdobeStock

Das Gespräch führte Mag. Christina Lechner

medonline: Was hat sich die Situation im Leistungssports nach dem Bekanntwerden und der medialen Berichterstattung sexueller Übergriffe verändert?

Chris Karl: Seit der „Me Too“-Bewegung und vor allem mit dem Outing von Nicola Werdenigg im Jahr 2017 (die ehemalige Skirennläuferin berichtete damals von Übergriffen seitens Trainern, Kollegen und Betreuern, Anm.)  hat sich in Österreich das Bewusstsein für die Präventionsarbeit im Sport definitiv verändert.

btf
privat

Mag. Chris Karl, MA

Früher hieß es mitunter in den Verbänden: „Wir würden gerne eine Fortbildung dazu machen, aber dann glauben die Leute womöglich, wir hätten einen konkreten Fall.“ Heute wollen die Verantwortlichen im Sport ganz gezielt präventiv arbeiten.

Tätigkeiten im Sport erfordern oft körperliche Nähe – das reicht von der Sicherung im Turnen bis zur Massage oder Physiotherapie. Wie kann da potenzielles Grooming als Vorstufe zu späteren Übergriffen erkannt werden?

Die Täter sind schlau und auch keine Einzeltäter – davon müssen wir ausgehen. Untersuchungen aus den USA zeigen, dass jemand, der ertappt wird, schon bis zu 100 Mal übergriffig gewesen sein kann. Typische Stufen des Groomings wie eine Annäherung an das Feld und das Schaffen eines Vertrauensverhältnisses auch zu den Eltern können nur dort erkannt und gestoppt werden, wo es klare Regeln und einen Verhaltenskodex gibt.

Es sollte etwa auffallen, wenn ein Kind oder Jugendlicher öfter zu Video-Analysen unter vier Augen zum Trainer eingeladen wird?

Richtig. Wenn Täter es schaffen, ein Kind herauszuholen und mit ihm oder ihr viel Zeit allein zu verbringen, sind wir zwar noch weit weg von der strafrechtlich relevanten Grenze; es können jedoch Anzeichen eines Groomings sein, das spätere Übergriffen oder gar Missbrauch begünstigt. Durch das gesäte Vertrauen fällt es den Kindern dann oft schwer, darüber zu reden, gerade weil auch das Umfeld der Person Vertrauen entgegenbringt.

Worin besteht hier der Unterschied zwischen dem Umfeld des Sports und etwa der Schule?

Das größte Problem ist sicher, dass es den Vereinen oft schwerfällt, überhaupt genügend Leute für das Nachwuchstraining zu finden. Daher wird in vielen Fällen nicht genau hingeschaut und auch kein Strafregisterauszug verlangt. Manchmal wird einfach angenommen, die Person wäre in Ordnung. Aber selbst ein Familienvater kann ein potenzieller Täter sein. Natürlich gibt es sehr viele untadelige Personen, die sich für den sportlichen Nachwuchs aufopfern und viel Einsatz bringen. Aber wenn etwas „zu gut ist, um wahr zu sein“, dann sollte genauer hingesehen werden.

Talente im Leistungssport werden heute auch sensibilisiert, etwa durch Ihre Vorträge in den Verbänden oder Schulungen durch speziell ausgebildete Sportpsychologinnen und -psychologen. Sie sollen hellhörig werden und auf die Einhaltung ihrer Grenzen achten. Kann aber einem Kind, das von einem Übergriff erzählt, immer geglaubt werden?

Immer! Wenn ein Kind mit der Geschichte von einem Übergriff kommt, dann muss es erst einmal eine Hemmschwelle überschreiten. Dass die Geschichten jedoch mitunter nicht immer genau gleich erzählt werden, hat psychologische Hintergründe: Kinder nehmen Dinge anders wahr als Erwachsene und ihr Gedächtnis funktioniert so, dass sie Dinge erzählen, wie sie „normal“ ablaufen. Abweichungen werden im Gedächtnis also möglicherweise durch das „Normale“ ersetzt. Es sollte daher die genaue Befragung zum Hergang jedenfalls Expertinnen und Experten überlassen werden!

Gibt es Sportarten, wo Übergriffe besonders häufig vorkommen?

Wenn wir uns die bekannt gewordenen Fälle im internationalen Vergleich ansehen, dann wird deutlich, dass praktisch jede Sportart bereits zumindest einen Fall hatte. Klar gibt es in manchen Sportarten mehr Körperkontakt, dafür könnten hier die Athletinnen und Athleten aber hellhöriger sein.

Ist „der Täter“ tatsächlich meist männlich?

Jein. Bei den Tätern gehen wir davon aus, dass es zu 85% Männer sind, es könnte aber die Dunkelziffer bei Frauen als Täterinnen höher sein. Es dürfte zudem eine Rolle spielen, dass bei Übergriffen seitens Frauen in der Gesellschaft noch mehr Toleranz herrscht oder die Dramatik nicht so hoch eingeschätzt wird. Geht es etwa um eine Vergewaltigung einer Frau an einer anderen Frau, dann ist es juristisch gesehen der gleiche Tatbestand, wie wenn ein Mann eine Frau vergewaltigt. Bei den Betroffenen haben wir allerdings beinahe eine Gleichverteilung zwischen Mädchen und Burschen: Laut einer deutschen Befragung von über 18-jährigen Sportlerinnen und Sportlern geben 80% der Betroffenen an, die Übergriffe hätten bereits vor dem 18. Lebensjahr begonnen, und da sind es wiederum zu 60% Mädchen und zu 40% Burschen.

Was machen die Übergriffe mit der Psyche der Betroffenen?

Prinzipiell geht jeder Mensch anders mit traumatischen Erfahrungen um. Da gibt es kein Schema, um zu sagen, welcher Schweregrad eines Übergriffes welche konkreten Folgen im Einzelfall nach sich zieht. Dazu kommt immer der Einfluss des persönlichen Umfelds, das im besten Fall unterstützend wirkt. Dass ein Übergriff Verletzungen der Psyche hinterlässt, steht jedoch außer Zweifel.

Die Botschaft ist also ähnlich jener bei Suizidalität: Es anzusprechen ist wichtig!

Richtig. Es auszusprechen hilft immer und der Vergleich ist sicher passend. Es herrscht auch oft die Furcht, nach Suizidgedanken zu fragen, doch bei suizidale Menschen Suizidgedanken anzusprechen, löst keinen Suizid aus – ganz im Gegenteil. Einen möglichen Übergriff anzusprechen oder danach zu fragen, kann eine Erleichterung sein, weil das Trauma für die Betroffenen ohnehin ständig präsent ist. Es sollte jedoch für die Betroffenen eine Auffangmöglichkeit bestehen und – genauso wie bei Suizidalität – Kontakt zu Fachleuten hergestellt werden. In diesem Zusammenhang müssen wir auch darüber sprechen, dass es an der Zeit wäre, dass im Gesundheitssystem psychische Verletzungen körperlichen gleichgestellt werden. Da gibt es immer noch Diskrepanzen, gerade was die Finanzierung von Therapieleistungen angeht.

Wann sollten Medizinerinnen und Mediziner hellhörig werden, wenn Sporttreibende in die Ordination kommen?

Wir müssen bedenken, dass die Betroffenen sehr gut darin sind, die Übergriffe zu verschleiern – so lange, bis sie einmal ausgesprochen werden. Ärztinnen und Ärzte oder auch Physiotherapeutinnen und -therapeuten sollten jedoch genau nachfragen, wenn jemand beispielsweise bei einer Berührung im Rahmen einer Untersuchung zurückzuckt. Dies sollte auf jeden Fall angesprochen werden. Es muss aber nicht sofort ein traumatischer Hintergrund dahinterstecken, das gilt es zu klären. Vielen Dank für das Gespräch!

Mag. Chris Karl, MA, ist ehemalige Leistungssportlerin, Sportwissenschafterin, forensische Psychologin sowie forensische Kinder-Interviewerin; sie leitet zudem die Fachstelle „Safe Sports“ in Salzburg und arbeitet als Trainerin für die Begleitung von Kinderschutzkonzepten.