Starke Zunahme von Schwangerschaftsdiabetes
Ein unbehandelter Gestationsdiabetes erhöht nicht nur das Risiko, dass Frauen später einen Typ-2-Diabetes oder eine kardiovaskuläre Erkrankung entwickeln, sondern verdoppelt auch die Wahrscheinlichkeit einer Adipositas und gestörten Glukosetoleranz bei den Kindern. Ein Circulus vitiosus mit fatalen Folgen für zukünftige Generationen.
Der Diabetes mellitus ist ein gutes Beispiel dafür, wie Unterschiede in der Erkrankungshäufigkeit zwischen Männern und Frauen einerseits durch die Biologie (Geschlechtschromosomen, Hormone), andererseits durch das psychosoziale Geschlecht (Einfluss der Geschlechterrolle auf Umweltfaktoren wie Lebensstil, Ernährung und Bewegung) bedingt sind. Männer haben zwar etwas häufiger einen Typ-2-Diabetes, dafür findet man bei Frauen über die gesamte Lebensspanne öfter eine gestörte Glukosetoleranz. Gerade in der Schwangerschaft wäre es wichtig, diesen Risikofaktor frühzeitig zu erfassen. Eine Messung des Nüchternblutzuckers reicht dafür aber nicht aus. „Gefunden werden kann eine gestörte Glukosetoleranz nur durch einen Zuckerbelastungstest“, betont Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Universitätsklinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien.
Bei Übergewicht und Adipositas zeigen die Geschlechtsunterschiede eine deutliche Altersabhängigkeit: In jüngeren Jahren haben mehr Männer mit Gewichtsproblemen zu kämpfen, im mittleren Lebensalter nähern sich die Kurven an und spätestens ab der Menopause sind die Prävalenzzahlen bei Frauen höher als bei Männern.
Häufigkeit von Schwangerschaftsdiabetes
Amerikanische Daten über die Prävalenz von Gestationsdiabetes und Adipositas bei über 63 Millionen Frauen, die zwischen 2004 und 2019 stationär entbanden, zeigen einen erschreckenden Trend: Die Prävalenz der Adipositas stieg bei den werdenden Müttern im Beobachtungszeitraum von 0,6 auf 9,8 Prozent. Da starkes Übergewicht der Hauptrisikofaktor für einen Schwangerschaftsdiabetes ist, kam es auch bei diesem innerhalb von 15 Jahren zu einer Vervierfachung (2,1% → 8,3%). In Europa dürften die Zahlen ähnlich sein: 2020 wurde in Deutschland bei 9,5 Prozent aller Frauen mit Klinikgeburt ein Gestationsdiabetes dokumentiert. Kautzky-Willer kritisiert, dass in Österreich bei der Dokumentation des Schwangerschaftsdiabetes leider noch große Lücken klaffen: Laut Frauengesundheitsbericht 2022 wurden in den heimischen Akutkrankenanstalten pro 100.000 Frauen zuletzt rund 100 Fälle gemäß ICD-Code als Gestationsdiabetes diagnostiziert. „Die Zahlen zeigen aber zumindest, dass der Schwangerschaftsdiabetes auch bei uns deutlich ansteigt.“
Risikofaktoren und unmittelbare Folgen
Die Risikofaktoren für einen Schwangerschaftsdiabetes sind im Wesentlichen die gleichen wie für einen Typ-2-Diabetes: Neben Übergewicht und Adipositas erhöhen vor allem Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, die Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen Gruppen und eine positive Familienanamnese für Typ-2-Diabetes die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau während der Schwangerschaft einen Gestationsdiabetes entwickelt. Bei insulinresistenten Müttern, deren Bauchspeicheldrüse zu wenig Insulin ausschüttet, steigen nicht nur die Blutzuckerwerte, sondern auch die Triglyzeride und die freien Fettsäuren. Die negativen Auswirkungen dieser Stoffwechselveränderungen auf den kindlichen Organismus reichen von Makrosomie, Geburtskomplikationen, neonatalen Hypoglykämien, verstärktem Ikterus und anderen Anpassungsstörungen bis zu einer erhöhten Rate von Früh- und Totgeburten. Eine unmittelbare Folge für die Mutter ist das zunehmende Risiko für Schwangerschaftshypertonie, Präeklampsie und alle möglichen Geburtskomplikationen. In großen Kollektiven lässt sich außerdem eine erhöhte Rate von anderen kardiovaskulären Komplikationen nachweisen: Ob Peripartum-Kardiomyopathie, Herzinsuffizienz, akutes Koronarsyndrom, Schlaganfall, Arrhythmien, venöse Thromboembolien oder Nierenprobleme – all diese Erkrankungen sind bei Frauen mit einem Schwangerschaftsdiabetes häufiger zu finden.
Langfristige Auswirkungen
In der Follow-up-Studie HAPO wurde zehn bis 14 Jahre postpartum nachgeforscht, welche Auswirkungen ein Schwangerschaftsdiabetes auf die weitere Entwicklung von Müttern und Kindern hatte. Bei den fast 4.000 untersuchten Mutter-Kind-Paaren zeigte sich, dass Frauen nach einem Gestationsdiabetes ein mehr als dreifach höheres Risiko hatten, einen Prädiabetes oder Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Ein Diabetes sollte auch deshalb vermieden werden, weil Frauen mit einem Diabetes eine höhere Mortalität haben als diabetische Männer, mehr Thromboembolien bekommen und häufiger unter Depressionen leiden. Von den Folgen des Schwangerschaftsdiabetes betroffen sind aber nicht nur die Mütter: Bei Kindern verdoppelte sich das Risiko für eine Adipositas und eine bereits im Jugendalter nachweisbare gestörte Glukosetoleranz. Bei Mädchen war das Adipositasrisiko sogar noch etwas höher als bei Buben. „Das erhöht natürlich die Gefahr, dass sich der Kreis schließt und die Töchter dann selbst wieder einen Schwangerschaftsdiabetes bekommen“, so Kautzky-Willer.
Screening führte zu Rückgang der Totgeburtenrate
Dank Mutter-Kind-Pass werden bei uns derzeit noch alle Schwangeren mittels Zuckerbelastungstest auf einen Schwangerschaftsdiabetes gescreent. „Ich hoffe, dass das so bleibt und wir endlich auch einmal einen elektronischen Mutter-Kind-Pass bekommen“, sieht die Expertin die Gesundheitspolitik gefordert. Das Screening erfolgt bei allen Schwangeren mit bis dahin unauffälligen Glukosewerten zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche. Laut den gültigen Kriterien liegt ein Schwangerschaftsdiabetes vor, wenn der Nüchternplasmaglukosewert 92mg/dl, der 1-Stunden-Wert 180mg/dl oder der 2-Stunden-Wert 153mg/dl überschreiten. Bei Risikopatientinnen kann es sinnvoll sein, bereits im ersten Trimenon einen oralen Glukosetoleranztest durchzuführen. Im EU-Projekt DALI, dass sich mit der Entwicklung von effektiven Präventionsmaßnahmen bei Frauen mit einem BMI ≥29,0 kg/m2 beschäftigt, erfüllten 23 Prozent der gescreenten Schwangeren bereits in der 15. SSW die Kriterien eines Schwangerschaftsdiabetes. Zusätzlich fanden die Forscher bei 0,5 Prozent der Frauen einen Diabetes in pregnancy (DIP; ein bereits zuvor bestehender Diabetes, der aber erst in der Schwangerschaft diagnostiziert wurde). Dass das Screening etwas bringt, belegt eine am Wiener AKH durchgeführte Analyse: Durch die Implementierung des universellen Screenings auf Schwangerschaftsdiabetes im Mutter-Kind-Pass konnte ein deutlicher Rückgang der Totgeburtenrate in Österreich erreicht werden.
Therapie beginnt bei Lifestyle-Änderungen
Bei Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes wird zuerst versucht, auf den Lifestyle einzuwirken. Wenn es mit Ernährungsberatung, überwachter Gewichtszunahme und erhöhter körperlicher Aktivität nicht gelingt, die Blutzucker-Zielwerte zu erreichen (nüchtern <95mg/dl und 1h nach den Mahlzeiten <140mg/dl), ist eine medikamentöse Therapie indiziert. „Die First-Line-Therapie ist in allen Guidelines nach wie vor Insulin“, hebt Kautzky-Willer hervor. Welche Insulinart und -dosis am besten geeignet ist, hängt vom Blutzuckerprofil ab. Meist wird sowohl basales als auch prandiales Insulin benötigt. Auch alle kurz- und langwirksamen Analoga können in der Schwangerschaft eingesetzt werden. Die Gabe von Metformin ist möglich, wird aber mittlerweile etwas zurückhaltender gehandhabt als noch vor einigen Jahren. Die Metforminkonzentration ist nämlich im Nabelschnurblut höher als im mütterlichen Blut. Zudem gibt es gewisse Hinweise, dass die Kinder nach Verwendung von Metformin in der Schwangerschaft eine verstärkte Gewichtszunahme und ein erhöhtes kardiometabolisches Risiko haben können.
Überwacht wird die Therapie am besten durch ein CGM-System, also ein kontinuierliches Glukosemonitoring. Zufriedenstellend eingestellt sind die Schwangeren, wenn ein Großteil der Blutzuckerte zwischen 63 und 140mg/dl liegt.
Nachkontrollen nach vier bis zwölf Wochen
Aufgrund des erhöhten Risikos, dass Frauen mit einem Schwangerschaftsdiabetes über kurz oder lang eine kardiovaskuläre oder metabolische Erkrankung entwickeln, sollte bei Betroffenen vier bis zwölf Wochen nach der Geburt eine Nachkontrolle (oGTT, Blutdruck, Blutfette) erfolgen. Laut einer Studie des Austrian Gestational Diabetes Projects (AGDP) haben vier Wochen nach der Geburt immerhin schon 17 Prozent der Schwangerschaftsdiabetes-Patientinnen einen Prädiabetes oder manifesten Diabetes. In der Praxis funktioniert die Nachkontrolle allerdings mehr schlecht als recht. In Studien kommen im Schnitt rund 30 bis 50 Prozent der Frauen zur Nachkontrolle, im Praxisalltag meist nur 20 Prozent. Nach einem Schwangerschaftsdiabetes müssen die Risikofaktoren auch langfristig (zumindest alle zwei Jahre) kontrolliert werden. Die frühzeitige Prävention aller Risikofaktoren durch Bewegung, Nichtrauchen, gesunde Ernährung, Gewichtskontrolle und gegebenenfalls Medikamente kann das Diabetesrisiko um etwa 50 Prozent reduzieren.
Der große, kleine Unterschied – Warum Gendern in der Kardiologie wichtig ist, Linz, 3. März 2023