Die Erfindungen der Natur nutzen
Kein Halloweenmärchen: Spinnenseidenfäden und Kiemenwurmblut sind in der Medizin bereits im Einsatz. Wie die Natur Technik – und auch Medizin – inspiriert, zeigt eine Ausstellung im Technischen Museum Wien.
Der Eiffelturm wurde nach dem Vorbild des menschlichen Oberschenkelknochens konstruiert, die Tentakel von Oktopoden standen Pate bei der Entwicklung von Saugnäpfen, die Beschaffenheit von Haifischhaut findet sich in Schwimmanzügen, Bootsrumpfanstrichen, Yogamatten und medizinischen Schutzfolien wieder: Zahlreiche Innnovationen wurden nach dem Vorbild der Natur entwickelt. Die Sonderausstellung „BioInspiration – Die Natur als Vorbild“ im Technischen Museum Wien präsentiert diese und noch viele weitere durch Jahrmillionen der Evolution perfektionierte Lösungsansätze der Natur, die auf den Bereich der Technik übertragen wurden. Bionik wird diese Forschungsdisziplin genannt. Die Beispiele stammen aus Architektur, Verkehr, Ingenieurwesen, Robotik, Energie, Stadtplanung, Materialkunde, Sport, Weltraumforschung – und natürlich Medizin.
Nahtmaterial aus Spinnenseidenfäden
Spinnenseide etwa inspirierte eine Reihe von Anwendungen in der regenerativen Medizin. Spinnenseidenfäden sind nicht nur extrem stark, sondern auch antiallergisch, atmungsaktiv, biokompatibel und biologisch abbaubar. Sie wurden bereits in der Antike als Bandagen verwendet. Heute wird Kunstseide mit spinnenähnlichen Proteinen als Nahtmaterial, für Nerven- und Sehnenreparaturen oder die Fixierung von Implantaten eingesetzt. Auf der MedUni Wien zum Beispiel laufen aktuell zwei Projekte zum Thema Nervenregeneration mit Spinnenseide, bei denen unter anderem untersucht wird, ob Spinnenseidenfasern als Füllmaterial in Venentransplantaten einen Nervenschaden über die kritische Länge von sechs Zentimetern erfolgreich reparieren und somit als gleichwertige Alternative zum Nerventransplantat für lange Nervenverletzungen dienen können.
Das Blut des Kiemenwurms Arenicola marina kann 40-mal mehr Sauerstoff transportieren als menschliches Blut. Der Wurm lebt in der Gezeitenzone von Sandstränden und kann daher bei Ebbe nicht atmen. Um zu überleben, reichert er das Hämoglobin in seinem Blut mit Sauerstoff an. Im Gegensatz zu anderen tierischen Hämoglobinen führt dieses Molekül beim Menschen nicht zu Nebenwirkungen wie der Verengung von Blutgefäßen und wird auch nicht vom Immunsystem abgestoßen. Ein französisches Biotech-Unternehmen hat auf Basis dieses speziellen Hämoglobins Anwendungen entwickelt für die Gewebeerhaltung bei Organtransplantationen, die Oxygenierung bei ischämischen Pathologien, sauerstoffhaltige Wundauflagen und Gele gegen Parodontitis und Periimplantitis (Knochenverlust um ein Zahnimplantat).
Haltbare Impfstoffe dank Bärentierchen?
Bärtierchen sind halbmillimetergroße wirbellose Tiere, die unter extremen Bedingungen überleben können: Sie überstehen Temperaturen weit jenseits des Siedepunkts von Wasser und nahe des Absoluten Nullpunkts. Dies gelingt ihnen, indem sie ihren Stoffwechsel völlig zum Stillstand bringen. Sie entziehen ihrem Körper alles Wasser und ersetzen es durch andere Verbindungen, insbesondere einen Zucker namens Trehalose, um die Integrität ihrer Zellen zu erhalten. ForscherInnen auf der ganzen Welt versuchen, diesen Schutzmechanismus nachzuahmen, um zu verhindern, dass große Moleküle bei höheren Temperaturen zerfallen. Aktuell geht es vor allem darum, Impfstoffe haltbar zu machen, so dass diese bei Raumtemperatur gelagert werden können und klima- sowie tageszeitbedingte Temperaturschwankungen überstehen.
Selbst Gelsen dienen als Modell
Einen Gelsenstich bemerkt man erst dann, wenn das Unglück längst passiert ist. Das liegt zum einen daran, dass die Plagegeister eine örtlich betäubende Substanz injizieren, zum anderen am komplexen Aufbau ihres Rüssels, der für einen äußerst gewebeschonenden Stich sorgt. Im Inneren des Rüssels befinden sich zwei Sägen, die vibrieren und somit die Haut zerschneiden, und zwei Kiefer, die das Gewebe auseinanderziehen. Forschende arbeiten an der Entwicklung von Mikronadeln, die nach dem Vorbild der Stechmücke konstruiert sind und beim Einstich keine Schmerzen verursachen. Hierbei geht es weniger um Impfungen, vielmehr um Blutabnahme. Eine solche Nadel könnte eine große Hilfe für Kinder oder Erwachsene sein, die panische Angst vor Nadeln haben.
Die Erfindungen der Natur gehorchen in den allermeisten Fällen dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Eine von der Natur inspirierte Technologie ist allerdings nicht automatisch nachhaltig – man denke nur an den Klettverschluss, die wahrscheinlich verbreitetste bionische Anwendung: dieser wird aus Nylon hergestellt, einem nicht biologisch abbaubaren Kunststoff. Die Ausstellung im Technischen Museum hingegen ist nachhaltig, denn sie ist wiederverwendbar und wird auch tatsächlich wiederverwendet: Sie wandert im Rahmen einer internationalen Museumskooperation weiter auf die DASA in Dortmund und schließlich wieder zurück in den Parque des las Ciencias in Granada, wo sie auch konzipiert wurde.
BioInspiration – Die Natur als Vorbild
Technisches Museum Wien
Ab 26. Oktober 2022