Zeigen, was die hausärztliche Arbeit so wertvoll macht
Der Kongress für Allgemeinmedizin fiel im November wieder in die Zeit des Lockdowns. Nun wird er als Webinar-Reihe nachgeholt. Drei Gewinner können sich aber jetzt schon über den Praxispreis, den die Medical Tribune gemeinsam mit der STAFAM vergibt, freuen – auch wenn er diesmal nicht wie üblich am Kongress feierlich überreicht werden konnte.
Der 51. Kongress für Allgemeinmedizin der Steirischen Akademie für Allgemeinmedizin (STAFAM) mit dem Titel „Vom Überfluss und Mangel – Ausgleich und Balance“ war eigentlich für Ende November 2021 geplant. Aus den bekannten Gründen konnte er jedoch wieder nicht stattfinden. Im Gegensatz zum Jahr davor, wo die Veranstaltung ebenfalls aufgrund eines Lockdowns abgesagt worden war, gibt es diesmal aber einen Ersatz: Am 11. Jänner startete die Webinar-Reihe – ebenfalls unter dem Motto „Vom Überfluss und Mangel“. Jeweils dienstags und mittwochs haben Ärztinnen und Ärzte sowie Studierende und medizinisches Personal ab 19 Uhr die Möglichkeit, an Online-Fortbildungen live teilzunehmen oder sich die Aufzeichnung davon anzusehen
(Informationen und Anmeldung unter: https://webinarreihe.stafam.at/anmelden).
Eine langjährige Tradition beim Kongress für Allgemeinmedizin sind die Praxispreise, auch heuer wieder gestiftet von der Medical Tribune in der Höhe von 1500, 750 und 350 Euro, die für die drei besten Fallberichte vergeben werden, welche die Wertigkeit der hausärztlichen Arbeit aufzeigen. Bewertungskriterien sind die allgemeinmedizinische Relevanz, die Qualität der Beschreibung sowie Originalität. Nachdem der Preis im Jahr 2020 aufgeschoben wurde – Einreichungen aus diesem Jahr wurden nun mitberücksichtigt –, können sich diesmal wieder drei Gewinner über die Auszeichnung freuen. Lesen Sie hier die drei Fallberichte, die bei Jury die höchsten Punktzahlen erzielt haben.
1. Preis: Therapieschemata und Lebensrealitäten
Dr. Anton Wankhammer (8403 Lang)
Eigentlich wurde eine 42-jährige Patientin in meiner Ordination vorstellig, weil sie auf der Suche nach einem Hausarzt war, der sich ihrer diabetischen Ulzera annehmen würde. Es sollte sich aber herausstellen, dass sich die Betreuung weit komplexer entwickeln würde, als reines Wundmanagement es vermuten hat lassen. Die Patientin war gerade erst von einer neurologischen Rehabilitation entlassen worden. Bei Typ-1-Diabetes kam es nämlich einige Monate zuvor bei bestehender Insulinpumpentherapie zu einer schweren hypoglykämisch bedingten hypoxischen Encephalopathie. Es bestanden multiple Gangräne an den Füßen und die familiäre Situation kann zusammenfassend als chaotisch beschrieben werden. Es waren bereits eine mobile Hauskrankenpflege, Sozialarbeiter und die Behörde in die Betreuung eingebunden. Im Erstgespräch wurde schnell klar, dass die Begleitung herausfordernd werden würde.
Die bestehende Insulintherapie war mit einer Basis-Bolus-Therapie fachlich sicherlich vom Feinsten, wurde aber von der Patientin nicht umgesetzt. Vielmehr hat sie sich das Insulin „nach Gefühl“ gespritzt. Auch Empfehlungen bezüglich der dringend nötigen Mitarbeit betreffend die diabetischen Ulzera gingen ins Leere. Im bestehenden kontinuierlich messenden Glukosesensorsystem waren weiterhin kritische Hypoglykämien bis 44 mg/dl dokumentiert. Somit war es oberste Priorität, diese bedrohlichen Hypoglycämien zu vermeiden. Das bestehende Insulinschema wurde stark vereinfacht sowie in der Insulindosis reduziert. Rasch stellte sich heraus, dass die ausgeprägte Incompliance der Patientin nicht auf Böswilligkeit beruhte, sondern schlicht auf fehlenden persönlichen mentalen und sozialen Ressourcen. Die Compliance besserte sich in den folgenden Wochen merklich und die Ulzera zeigten eine gute Heilungstendenz. Überraschend schwierig gestaltete sich aber die Zusammenarbeit zwischen den eingebundenen Pflege- und Sozialdiensten. Die üblicherweise sinnvollen hohen Qualitätsstandards in der Pflege waren in der bestehenden Ausnahmesituation mit dem dringend nötigen Pragmatismus und der erforderlichen Vereinfachung kaum in Einklang zu bringen. Letztlich ist es aber nach mehreren gemeinsamen Besprechungen und klaren Vorgaben gelungen, die Betreuung zu verbessern.
Wie zu erwarten zeigte sich in der ersten Laborkontrolle der HbA1c von anfänglich 8,4 % auf 9,1 % angestiegen, da die Insulindosis reduziert worden war, um kritische Hypoglykämien verhindern zu können. Als nächster Schritt wurde das Insulin sehr vorsichtig wieder gesteigert. Es kam aber wieder zum Auftreten von unerklärlichen Hypoglykämien bei starken Schwankungen des Glukosespiegels. Aufgrund der familiären Situation wurde aber vorerst weiter versucht, eine Betreuung im eigenen häuslichen Umfeld aufrechtzuerhalten, obwohl trotz des radikal vereinfachten Insulinschemas keine zufriedenstellende Einstellung gelang.
Alles änderte sich, als ich die Patientin mit einer aufgezeichneten schweren nächtlichen Hypoglykämie konfrontierte, welche eindeutig nur durch Gabe eines kurzwirksamen Insulins entstanden sein konnte. Als Erklärung präsentierte die Patientin die Erzählung, dass es nur sein könne, dass ihr Exmann ihr in der Nacht das Insulin im Schlaf verbreicht habe. Obwohl dies sehr unglaubwürdig schien, ließ ich das Insulin durch die Mutter der Patientin wegschließen, um jeglichen Missbrauch zu verhindern. Und siehe da – ab diesem Zeitpunkt zeigten sich die Glukosekurven der kontinuierlichen Glukosemessung drastisch gebessert und kaum mehr schwankend. Erst jetzt gestand die Patientin ein, dass sie ständig aus subjektiver Sorge vor einer schweren Hypoglykämie, einen Mix aus stark zuckerhaItigen Getränken und Insulingaben angewendet hatte.
Letztlich war der Schlüssel zu einer sinnvollen, und vor allen sicheren, Insulintherapie die Erkenntnis, dass das Insulinmanagement durch die Patientin selbst einfach nicht möglich ist, sondern durch externe Hilfestellung in einem entsprechenden Betreuungsumfeld sichergestellt werden musste. Mitunter sind es nicht hochkomplexe Therapieschemata, welche den Erfolg bringen, sondern die akribische Erforschung der Lebensumstände unserer Patientinnen und Patienten und die Anpassung der Therapie an genau diese Lebensrealitäten.
2. Preis: Überfluss und Mangel
Dr. Monika Guem (6542 Pfunds)
Die meisten von Ihnen werden Tirol kennen; viele vielleicht von einem Urlaub in den Bergen – alle von Ihnen werden Bilder im Kopf haben, wenn Sie nur das Wort „Tirol“ hören. Mächtige, verschneite Berge, tobende Flüsse, enge Täler. So einzigartig die Landschaft dieses kleinen Landes ist, so sind es auch die Menschen. Eng, stur, vielleicht verbissen – aber auch zäh und liebenswürdig. Und von einem dieser Menschen möchten wir heute erzählen; eine einfache medizinische Geschichte, die sich genauso auch in jedem anderen Hintertupfing abspielen hätte können. Sie werden keine neuen medizinischen Erkenntnisse aus diesem Fallbericht ziehen können. Vielmehr beschreibt es die Sinnhaftigkeit „unseres Hausärzte-Seins“ – die Wichtigkeit des Gesprächs, des Zuhörens und der Wertschätzung jedes Einzelnen in einer Hausarztpraxis am Ende der Welt.
Frau H., eine 81-jährige rüstige Bäuerin, kommt in regelmäßigen Abständen zum Hausarzt, um ihren Blutdruck zu kontrollieren und ihre Medikamente anzupassen. Wenn wir von einer rüstigen Bäuerin im Tiroler Oberland sprechen, dann können Sie sich die Patientin sicher schon ein wenig vorstellen. Sie ist eine jener Frauen, deren Körper von der vormals noch harten Bauern-Arbeit gezeichnet sind. Heberdensche Knoten an den Händen zeugen von der jahrelangen harten manuellen Arbeit, der angedeutete Witwenbuckel ein weiterer Beweis dafür, dass diese Frau nicht „nur“ Büroarbeit geleistet hat. Mit dem Stock in der Hand gleicht sie das hinkende Gangbild ihrer schmerzenden Coxarthrose etwas aus. Und dennoch ist das sonnengegerbte Gesicht offen und freundlich. Sie berichtet, dass sie zufrieden sei, mit ihrem Allgemeinzustand, nur wenige Schmerzen habe, aber dem „Herrgott“ jeden Tag dafür danke, noch selber aufstehen zu können und nicht bettlägerig zu sein, um bloß niemandem zur Last zur fallen. Nur der Gang zur heiligen Messe, den würde sie in letzter Zeit meiden.
Während wir den Blutdruck messen und ihre Medikamentenliste kontrollieren, fragen wir beiläufig, warum sie denn nicht mehr zum Gottesdienst gehen würde. Und so erzählt sie:
„Na ja, das geht nimmer so, weil ich das Wasser nicht mehr halten kann – und wenn ich dann von der Kirchenbank aufstehe und die ganze Hose nass ist, das ist ja zum Schämen.“ Da sitzt sie also, die starke Bergbäuerin im hintersten Tiroler Seitental, und erzählt ihrem Hausarzt offenherzig von diesem absoluten Tabu-Thema und der damit verbundenen Einschränkung in ihrem Leben. Nach sechs natürlichen Geburten sei es eben im Alter so, dass man nicht mehr ganz dicht sei, meint sie. Und weil man dagegen eh nichts machen kann, habe sie es vorher nie erwähnt. Es sei ja eigentlich auch nicht erwähnenswert, aber es schränke sie schon zusehends ein.
Es folgt im Anschluss natürlich ein Gespräch über die Inkontinenzproblematik im Alter und die Therapiemöglichkeiten. Eine gynäkologische Untersuchung war bei der Patientin zuletzt vor Jahrzehnten durchgeführt worden. Im Verlauf des Gespräches konnte sie überzeugt werden, sich noch einmal untersuchen zu lassen. Und natürlich ergab die Untersuchung bei der nächstgelegenen Gynäkologin, welche ca. 45 Minuten Autofahrt entfernt ist, und somit der Besuch für die Patientin eine Tagesaufgabe wird, einen Descensus uteri, welcher die Problematik perfekt erklärte. Eine Therapie mit einem Pessar wurde gestartet und damit konnte eine unkomplizierte, nicht-operative Therapieoption gefunden werden und die Patientin ist nahezu beschwerdefrei. Der sonntägliche Kirchgang und damit die soziale Eingliederung ins Dorfgeschehen wurde wieder ermöglicht.
Wie schon eingangs erwähnt, womöglich eine alltägliche Geschichte – jedoch gleichzeitig auch ein Aufzeigen dessen, dass in unserer Gesellschaft nicht nur Überfluss herrscht. Dass wir auch noch eine Generation Menschen behandeln, die aus dem „Nichts“ sehr viel wieder aufgebaut haben. Eine Generation Mensch, die uns den heutigen Überfluss und die medizinische Entwicklung ermöglicht haben und dabei selbst häufig an – gesundheitlichem – Mangel leiden mussten oder müssen. Ein Fallbericht über jene Menschen, die trotz aufsteigendem Tourismus, Wohlstand und Dr. Google das persönliche Gespräch und das Vertrauen ihres Hausarztes suchen. Ein Plädoyer für die Allgemeinmedizin, als Glied zwischen Individuum und Medizin.
3. Preis: Gleichzeitig Läuse und Flöhe
Dr. Johannes Moussoulides (1120 Wien)
„Herr Doktor, ich habe wieder eine Prostatitis!“, sagte Herr M. gleich am Beginn der Anamnese. Herr M. war ein relativ gesunder, leicht übergewichtiger 47-jähriger Patient, der außer einer arteriellen Hypertonie sowie zweimal einer akuten Prostatitis vor mehreren Jahren keine relevanten Vorerkrankungen hatte. Und ich war Lehrpraktikant einer Allgemeinmedizin-Praxis im 15. Wiener Gemeindebezirk.
Herr M. berichtete über zeitweise subfebrile Temperaturen und Schüttelfrost sowie Schmerzen im Bereich des Damms – zunehmend seit zwei Tagen. Der Harn und die Harnmenge wären unauffällig, es bestünde jedoch eine Algurie und Pollakisurie. Weiters klagte der Patient über Schmerzen beim Stuhlgang, er hätte seit Jahren eher härteren Stuhl. Manipulationen am Urogenitaltrakt sowie Ausfluss wurden negiert. Aufgrund der starken Schmerzen fühlte er sich nicht imstande, seiner Arbeit als Sozialarbeiter nachzugehen. „Das ist genauso wie die letzten beiden Male!“ – Herr M. stellte die Diagnose akute Prostatitis selbst. Der Patient präsentierte sich in gutem Allgemeinzustand, die Vitalparameter waren im Normbereich. In der klinischen Untersuchung auffallend waren ein Druckschmerz suprapubisch und im Bereich des Damms sowie eine teigig weiche und druckschmerzhafte Prostata. Der Harnstreifentest war unauffällig. Zur weiteren Diagnostik veranlasste ich eine Harnkultur sowie eine Laborkontrolle und überwies den Patienten zum Urologen. Ich verschrieb eine antibiotische Therapie mit Ciprofloxacin, eine Schmerzmedikation und ein Laxans.
Bei der Kontrolle am übernächsten Tag berichtete der Patient über zeitweise fast unerträgliche Schmerzen, immerhin kam es zu einer leichten Besserung der Miktionsbeschwerden. Der klinische Status war idem. Im Labor zeigten sich die Entzündungsparameter und der PSA-Wert mäßig erhöht. Der Urologe hatte die Diagnose bestätigt, Herr Moser hätte diesmal eine „ordentliche Prostataentzündung“. Restharn hatte er nicht, und im transrektalen Ultraschall fand sich kein Hinweis auf Abszess. Ich musste die analgetische Therapie um ein Opioidanalgetikum erweitern. Eine Kontrolle beim Urologen wäre nach einer Woche geplant, spätestens dann sollte der Patient auch zu mir zur Kontrolle kommen.
Eine Woche später berichtete der Patient über eine phasenweise Besserung der Beschwerdesymptomatik. Der Urologe wäre mit dem Verlauf zufrieden. Mittlerweile war auch das Ergebnis der Harnkultur eingelangt: kein Keimnachweis. In der erneuten klinischen Kontrolle war nun ein lokalisierter Druckschmerz im Unterbauch paramedian links auffallend, dort war bei tiefer Palpation auch eine dezente Verhärtung tastbar. „Irgendetwas stimmt hier nicht!“, dachte ich mir. Aufgrund des auffälligen klinischen Befundes schickte ich den Patienten zur Unterbauchsonographie mit der Fragestellung nach Hinweis auf Divertikulitis.
Am nächsten Tag kam der Patient erneut in die Praxis. Der Radiologe hätte gesagt, er sollte gleich zur Befundbesprechung kommen. Es wurde eine Darmwandverdickung im Bereich des Colon sigmoideum beschrieben. Komplikationen konnten sonographisch jedoch nicht ausgeschlossen werden. Ich überwies den Patienten auf eine chirurgische Spitalsambulanz zur weiteren Abklärung und Therapieübernahme.
Wenige Tage später berichtete mir Herr M., dass er bereits drei Mal in der Spitalambulanz war. Er wurde jedes Mal zur klinischen und laborchemischen Kontrolle am nächsten Tag wiederbestellt. Aufgrund der „milden“ Befunde erfolgte jedoch keine Computertomographie. Die antibiotische Therapie wurde um Metronidazol erweitert, zudem wurden diätetische Maßnahmen empfohlen. Aufgrund der weiterhin bestehenden ausgeprägten Klinik organisierte ich eine CT-Untersuchung für den nächsten Tag.
Im CT-Befund wurde eine Divertikulitis mit gedeckter Perforation beschrieben. Ich wies den Patienten erneut ins Spital ein. Diesmal wurde er stationär aufgenommen. Es erfolgte schließlich ein konservatives Prozedere und er konnte nach zehn Tagen stationärem Aufenthalt entlassen werden.
Der weitere Verlauf war erfreulich. Die Urologie-Kontrolle nach vier Wochen Antibiotika-Therapie war zufriedenstellend. In der Nachsorge-Koloskopie drei Monate nach Abklingen der Entzündung zeigte sich das Bild wie bei ausgeheilter Divertikulitis, kein Hinweis auf Stenosen oder Malignom.
Dieser Fall unterstreicht die Wichtigkeit einer allgemeinmedizinischen Betreuung. Er verdeutlicht auch, dass bei „bekannten Beschwerden“ und „bekannten Diagnosen“ jedes Mal erneut zumindest eine gezielte Anamnese und klinische Untersuchung durchgeführt werden sollte. Denn hier verbirgt sich eine große Fehlergefahr: Die angenommene bekannte Diagnose könnte eine Fehldiagnose sein oder der Patient könnte – wie in diesem Fall auch. – „gleichzeitig Läuse und Flöhe“ haben.