Rücksichtlosigkeit im Straßenverkehr ist kein isoliertes Phänomen
Eine Studie aus Estland zeigt, dass Auffälligkeiten im Straßenverkehr auch mit riskantem Verhalten in anderen Lebens- bereichen assoziiert sind. Die Hypothese, dass dahinter genetische Varianten des Serotonin-Metabolismus stehen, ließ sich jedoch nicht erhärten. Weitere Studien sollen jedoch folgen.
Manche Klischees halten einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. Eine Gruppe aus Estland konnte nun zeigen, dass Personen, die häufig wegen ihres Verhaltens im Straßenverkehr gestraft werden, auch mehr Alkohol trinken und Junkfood konsumieren.1 Die Vermutung lag nahe, dass sie möglicherweise nicht anders können, weil dieses Verhalten mit bestimmten Polymorphismen im Serotonin-Transporter-Gen assoziiert sein könnte, so Studienautor Dr. Tõnis Tokko von der Universität Tartu. Denn Risikoverhalten im Verkehr und in anderen Lebensbereichen ist ebenso wie ein ungesunder Lebensstil inklusive Alkohol und Drogenkonsum mit Impulsivität und Aggression assoziiert. Impulsives Verhalten ist wiederum assoziiert mit einer geringen Kapazität des zentralen serotonergen Systems. Ebenso wurden Zusammenhänge zwischen dem Polymorphismus des Serotonin-Transporter-Gen-Promotors (5-HTTLPR) mit Impulsivität, Alkoholkonsum, Schnellfahren und Verkehrsunfällen hergestellt.2,3,4 In der nun publizierten Studie wurde die Frage gestellt, ob sich Personen mit weniger gesundem Lebensstil im Straßenverkehr riskanter verhalten und ob, bzw. welchen Einfluss der Genotyp des Serotonin-Transporters auf dieses Verhalten hat.
Dazu wurde eine Subpopulation der Estonian Psychobiological Study of Traffic Behaviour (EPSTB) von etwas mehr als 800 Personen ausgewertet. Die EPSTB ist insofern einzigartig, als sie in einer großen Kohorte psychologische, genetische und biochemische Parameter mit Polizei und Versicherungsdaten kombiniert. Die Datensammlung begann 2001 mit der Intention, Risikofaktoren für alkoholisiertes und schnelles Fahren zu identifizieren und daraus Interventionsstrategien zu entwickeln. Mittlerweile hat sich die Studie zu einem Forschungsprojekt entwickelt, das eine Reihe unterschiedlicher Zielsetzungen verfolgt. „Generell ist das Verhalten im Straßenverkehr ein gutes Modell zum Studium von Verhaltensregulation. Die meisten Menschen fahren Auto und Verkehrsstrafen und Unfälle sind objektive Daten, die über lange Zeit gespeichert bleiben“, sagt Tokko. Darüber hinaus biete die EPSTB die Vorteile einer großen Longitudinal-Studie und erlaubt ein kontinuierliches Follow-up von Verhaltensparametern und Biomarkern. Damit können auch Verhaltensänderungen im Laufe des Lebens beobachtet und mit Veränderungen von Biomarkern korreliert werden.
Für die aktuelle Studie machten die Probanden Angaben zu ihrem Lebensstil, Impulsivität wurde mit der Adaptive and Maladaptive Impulsivity Scale (AMIS) gemessen und Aggressivität mit dem Buss-Perry-Aggression-Questionnaire. Verkehrsstrafen wurden aus Polizei-Datenbanken erhoben. Daten zur Genotypisierung des 5-HTTLPR waren für die EPSTB-Kohorte bereits vorhanden. Für die vorliegende Auswertung wurden homozygote Träger des l’ Allels (l’/l’) mit Trägern des s’ Allels verglichen. Die Verteilung betrug: l’/l’: 32,0%; s’/l’: 49,2%; s‘/s‘: 18.8%.
Alkohol, Fast Food und Risikoverhalten
Personen, die innerhalb der letzten fünf Jahre Strafen wegen Schnellfahrens erhalten hatten, zeigten höhere Scores für schnelle Entscheidungsfindung, Suche nach Aufregung sowie physische und verbale Aggression und schnellere Reaktionszeiten. Schnellfahrer zeigten auch einen signifikant höheren AUDIT-Score, der den Alkoholkonsum quantifiziert und gaben mehr anstrengende körperliche Aktivität an. Schnellfahrer ernährten sich auch ungesünder und konsumierten mehr Energy-Drinks. Eine Pfad-Analyse zeigte, dass höhere AUDIT-Scores mit Schnellfahren auf dem Umweg über körperliche Aggression assoziiert waren. Der 5-HTTLPR-Polymorphismus war nicht direkt mit Schnellfahren assoziiert, allerdings zeigten S-Allel-Träger höhere AUDIT-Scores, wenn sie auch Junk Food konsumierten.
Im Anschluss an die Präsentation wies Tokko jedoch darauf hin, dass die Frage nach den genetischen Assoziationen zu riskantem Fahrverhalten noch nicht vom Tisch sei und seine Studie einige Hinweise geliefert habe, die nun in weiteren Arbeiten untersucht werden sollen. Tokko: „Bis jetzt konnten wir signifikante Assoziationen zwischen riskantem Fahrverhalten und diversen Lebensstil-Aspekten nachweisen. Und die Effekte sind nicht klein. Beispielsweise neigen Personen, die häufig Energydrinks konsumieren, mit doppelter Wahrscheinlichkeit zum Schnellfahren. Letztlich zeigt unsere Arbeit, dass rücksichtloses Verhalten im Straßenverkehr kein isoliertes Phänomen ist und dass es möglicherweise dafür einen biologischen Hintergrund gibt.“
- Tokko T et al., ECNP 2021, Conference Abstract: P0318
- Lesch KP et al., Science 1996; 274:1527–1531
- Eensoo D, Accident Analysis & Prevention 2018; 113:19–24
- Luht K et al., Acta Neuropsychiatrica 2019; 31:159–166