Antikörpermangelsyndrom
Der 39-jährige frühere Militärpilot und heutige Unternehmer Gregor Scheurecker berichtet, wie er als gut informierter „mündiger“ Patient an Grenzen im Gesundheitssystem stieß und jahrelang keine Diagnose und wirksame Behandlung erhielt. Univ.-Prof. Dr. Hermann Wolf von der Immunologischen Tagesklinik in Wien stellte bei ihm schließlich ein Antikörpermangelsyndrom fest, das mit Immunglobulin-Infusionen gut behandelt werden kann – mit hohem Gewinn an Lebensqualität!
Bereits im Kindesalter litt Gregor Scheurecker an Allergien und häufigen Infekten, „mit der Pubertät besserten sich die Beschwerden zunächst. Während meiner Laufbahn als Offizier und Pilot beim Österreichischen Bundesheer hatte ich jedoch seit 2008 bei den regelmäßigen Gesundheits-Checks auffällige Blutbefunde.“ Häufige Infekte, vor allem Nasennebenhöhlenentzündungen, machten ihn bis zu 20 Wochen pro Jahr fluguntauglich, später kam Asthma dazu.
„Ab 2016 verschlimmerte sich mein Gesundheitszustand immer mehr, ich hatte sechs Monate lang erhöhte Temperatur und fühlte mich völlig energielos.“ Von mehreren Ärzten wurde sein Zustand als „protrahierter viraler Infekt“ bezeichnet. „Als in der Folge eines Verkehrsunfalls ein großes Blutbild erstellt wurde, fielen verminderte Immunglobuline auf. Doch meine Frage nach einem möglichen Zusammenhang mit meiner Infektneigung wurde verneint“, erzählt Scheurecker.
Eigene Recherchen führten ihn schließlich zur Immunologischen Tagesklinik (ITK) in Wien und der Bitte an den Hausarzt um Überweisung dorthin. Aufgrund der vorliegenden Befunde und neuer Untersuchungen bestätigte Univ.-Prof. Dr. Hermann Wolf, Facharzt für Klinische Immunologie, die Verdachtsdiagnose „Antikörpermangelsyndrom“ und begann die Therapie mit Immunglobulinen.
Aktuell, so Wolf, werden an der ITK rund 320 Patienten mit verschiedenen Formen von Abwehrschwächen (siehe Fakten-Check unten) betreut, die mit Immunglobulinen behandelt werden. „Die Inzidenz für den Allgemeinen Variablen Immundefekt (CVID) liegt nach internationalen Vergleichsstudien etwa bei 1/13.000. Unseren Schätzungen zufolge dürften etwa 50 bis 80 Prozent der Betroffenen in Österreich noch nicht diagnostiziert sein.“ Das Team der ITK hat auch deshalb einen guten Überblick, da selbst universitäre Zentren Proben bzw. Patienten zur Spezialdiagnostik an die ITK überweisen.
Immunglobulin-Therapie
Ist wie bei Scheurecker eine Therapie mit Immunglobulinen indiziert, so kann diese als intravenöse Infusion alle zwei bis vier Wochen oder als subkutane Kurzinfusion alle drei bis vier Tage verabreicht werden. „Letztere hat den Vorteil, dass der Patient unabhängig von der Klinik ist“, sagt Wolf. Ist die Einstellung erfolgt und die richtige Dosis gefunden, genügen einmal jährliche Kontrollen. „Ich habe schon mit der ersten Behandlung enorm viel Energie gewonnen und war über eineinhalb Jahre frei von Infekten. Ich kann auch wieder arbeiten, Sport treiben und mache eine weitere Ausbildung“, erzählt Scheurecker weiter.
Vor allem bedeutete die Diagnose und die Therapie eine „soziale Entlastung“, wo ihm zuvor sogar schon ein „Ausnützen des Krankenstandes“ unterstellt worden war. „Mit der Diagnose wuchs in meinem Umfeld das Verständnis für die Erkrankung. Umso unverständlicher ist es mir jedoch, wenn ich höre, dass Menschen mit sehr häufigen und anhaltenden Infekten Ratschläge wie ,mehr Gemüse essen‘ bekommen.“ Dass sich seine teure Therapie rechnet, zeigt der volkswirtschaftliche Gewinn, der den hohen Arzneikosten gegenübersteht: „Ich bin heute selbstständiger Unternehmer und beschäftige sechs Mitarbeiter – ohne die Therapie wäre dies nicht möglich.“
Wolf plädiert in diesem Zusammenhang für die Plasmaspende: „Es gibt allerdings noch einige Länder, in denen Plasmapheresezentren nicht gestattet sind. Doch allein aus Einzelspenden ist es fast unmöglich, genügend Ausgangsmaterial für die Gewinnung der Immunglobuline zu bekommen.“
„Keine Scheu vor der Immunologie!“
Eine Hürde besteht auch im Zugang zur Diagnostik, die mittlerweile nicht mehr als Kassenleistung in Anspruch genommen werden kann. „Solange die Untersuchung von den Krankenkassen finanziert worden war, dauerte es im Mittel 20 Monate vom Beginn der Symptome bis zur Diagnose. Mittlerweile sind wir wieder bei fünf bis sechs Jahren, was auch internationalen Erfahrungen entspricht“, betont Wolf.
„Bei einem klinisch begründbaren Verdacht und wenn Sie das Gefühl haben, häufige Infektionen oder Entzündungen machen Probleme, kontaktieren Sie lieber früher als später einen Immunologen“, ersucht Wolf seine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen. „Vieles kann mit wenig Aufwand diagnostiziert werden und es ist auch nicht bei allen Formen von Abwehrschwächen eine Immunglobulintherapie indiziert.“
Frage nach Impfungen
Auf Impfungen sprechen Patienten mit Antikörpermangelsyndrom recht unterschiedlich an: „Es kann sein, dass sie z.B. nach einer FSME- oder Grippeimpfung ganz normal Antikörper bilden, aber gegen Erreger mit einer Polysaccharid-Hülle weniger Antikörper bilden und häufiger Auffrischungen benötigen. Wie es sich bei der COVID-Impfung verhält, muss erst untersucht werden“, betont Wolf. Scheurecker jedenfalls zeigt sich optimistisch, vor allem im Hinblick auf die mRNA-Technologie: „Ich freue mich schon auf meine Impfung.“
Fakten-Check: Antikörpermangelsyndrom
Aktuell sind laut Website der ITK rund 430 verschiedene Formen von angeborenen Abwehrschwächen bekannt. Neben klassisch monogenen Erkrankungen, die sich bereits im Kindesalter manifestieren wie etwa die Agammaglobulinämie, gibt es Formen, die nach heutigem Verständnis auf somatische Mutationen bei der Proliferation von Immunzellen zurückzuführen sind. Sie können daher auch erst im Erwachsenenalter manifest werden, wie etwa der Common (Allgemeine) Variable Immundefekt (CVID), eine Erkrankung, die mit Hypogammaglobulinämie und dem Fehlen einer ausreichenden IgG-Antikörperbildung verbunden ist.
Betroffene Patienten können zwar eine ausreichende Anzahl von B-Zellen haben, diese arbeiten aber nicht ordnungsgemäß. Auch T-Zellen können defekt sein. Die Therapie erfolgt durch die Gabe von Immunglobulinen, eine Stammzellentherapie wird experimentell untersucht. www.itk.at
Selbsthilfe
Wichtige Anlaufstellen für Patientinnen und Patienten mit Immunschwäche sind nach Erfahrung von Gregor Scheurecker der „Verein ChronischKrank“ (https://chronischkrank.at/) oder die Österreichische Selbsthilfegruppe für primäre Immundefekte (ÖSPID, www.oespid.org).
Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen
Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.
In der neuen medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.
Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) & Mag. Ulrike Krestel (Redaktionsleitung medonline) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)
In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen