Psychische Komorbidität bei chronischen Schmerzpatienten
Deutlich gestiegene Opioidverordnungen, zahllose Tote: In den USA konnte man diese desolate Entwicklung beobachten. Eine Blaupause für Europa, wo ebenfalls immer häufiger Opiate rezeptiert werden? Nicht unbedingt, sofern es gelingt, besonders gefährdete Schmerzpatienten zu identifizieren – z.B. diejenigen mit psychiatrischer Komorbidität.
Geht es um die Verordnung von Opioiden, kommt einem zwangsläufig das Schreckgespenst Nordamerika in den Sinn. Parallel zu einer immer häufigeren Verordnung von Opioden, vor allem von Oxycodon, erhöhte sich in den USA und Kanada die opioidabhängige Mortalität. Seit 2010 hat sich dieser Anstieg dramatisch beschleunigt – jetzt allerdings aufgrund von Heroin und illegal genutzten Opioiden wie Fentanyl. Diese Situation gibt es in Europa zum Glück (noch) nicht, wenn auch Opioide insbesondere in Deutschland deutlich häufiger als früher verschrieben werden.
Häufiger Suchttherapien wegen Opioidabhängigkeit
Den vermehrten Einsatz dieser Substanzen darf man nicht gleichsetzen mit einem problematischen Gebrauch. Er spiegelt eher die größere Achtsamkeit gegenüber Schmerzen und eine verbesserte Schmerztherapie wider, betonte Professor Dr. Arnt Schellekens, Direktor des Instituts für wissenschaftliche Suchtmedizin in Nijmegen. Allerdings lässt sich u.a. in den Niederlanden parallel zur Zunahme von Opioidverordnungen, insbesondere von Oxycodon, ein langsamer Anstieg der Suchttherapien aufgrund von Opioidabhängigkeit beobachten. Und parallel zur steigenden Häufigkeit der Oxycodon-Rezepte nahm die Zahl der Klinikaufnahmen wegen einer Überdosis verordneter Opioide zu. 2017 ist die opioidabhängige Mortalität besonders deutlich angestiegen. Möglicherweise entspricht die aktuelle Situation in Europa der in den USA vor zehn Jahren, nur auf einem niedrigeren Niveau.
Risiko für problematischen Opioidgebrauch erhöht
Um dem problematischen Gebrauch von Opioiden vorzubeugen, ist es nach Ansicht des Kollegen wichtig, die Besonderheiten der Schmerztherapie bei Menschen mit psychischen Erkrankungen zu beachten. Eine systemische Übersichtsarbeit hat belegt, dass es eine signifikante Assoziation zwischen psychischer Komorbidität, insbesondere Depression und Angststörungen, und der Entwicklung eines problematischen Opioidgebrauchs bei Patienten mit chronischem Schmerz gibt. Diese Erkenntnis sollte dazu führen, dass bei Schmerzpatienten immer nach einer potenziellen komorbiden psychischen Erkrankung gesucht wird. Die 12-Monats-Prävalenz einer schweren Depression liegt bei chronischen Schmerzpatienten mit 10–30 % deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung (5–7 %). Dasselbe gilt für Panikstörungen (15–30 % vs. 1–3 %) und posttraumatische Belastungsstörung (15–30 % vs. 3–4 %).
Prof. Schellekens geht davon aus, dass sich chronischer Schmerz und psychische Erkrankungen gegenseitig verstärken, wobei die Interaktion komplex ist. Besonders gut erkennen kann man die Assoziation von chronischem Schmerz plus dem damit zusammenhängenden Stress mit psychischen Erkrankungen, die mit negativen Affekten (Depression, Angst) einhergehen. Diese Erkrankungen sind verbunden mit einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit und einer schlechter wirkenden analgetischen Therapie.
Die Betroffenen benötigen höhere Opiatdosen, eine längere Opiattherapie und sie leiden stärker unter Craving sowie unter einer schlechteren Lebensqualität als Schmerzpatienten ohne psychische Komorbidität. Die Kombination von negativen Affekt-Erkrankungen und chronischem Schmerz ist daher mit einem hohen Risiko für einen erhöhten und möglicherweise auch irgendwann problematischen Opioidgebrauch verbunden. Das soll aber auf keinen Fall bedeuten, Menschen mit psychischen Erkrankungen eine adäquate Schmerztherapie zu versagen, betonte Prof. Schellekens. Vielmehr ist eine interdisziplinäre Betreuung dieser Patienten für Screening und Behandlung wichtig und der Opiatgebrauch sollte besonders sorgfältig monitoriert werden.
Ist es in dieser Klientel zu einem problematischen Opioidgebrauch gekommen, muss mit einer deutlich längeren Zeit für das Ausschleichen gerechnet werden, mitunter bis zu drei Monaten in der ambulanten Situation.
Fürs Ausschleichen genügend Zeit lassen
Bei zu raschem Tapering kann sich die psychische Erkrankung dramatisch verschlechtern bis hin zur Suizidalität. Braucht ein Patient noch länger, ist auch das möglich, Hauptsache, er hat das Gefühl der Kontrolle über den Ausschleich- und Entgiftungsprozess, erklärte Prof. Schellekens.
In einer eigenen, noch nicht publizierten Studie hat der Kollege gute Erfahrungen mit dem Umstellen auf Buprenorphin/Naloxon gemacht. Schmerz, Craving, Stresssymptome und problematischer Gebrauch verringerten sich und es erhöhten sich sogar die Schmerzschwellen wieder etwas.
* Online-Veranstaltung
28th EuropeanCongress of Psychiatry*