Strategien bei schwerer Anorexia nervosa
Die Mortalität bei Anorexiepatienten ist fünf- bis sechsmal höher als bei allen anderen psychischen Erkrankungen. Nur bei wenigen Patienten mit schwerem, langem Verlauf hat die Therapie Erfolg. Neben experimentellen Ansätzen soll ihnen in erster Linie eine kognitive Verhaltenstherapie helfen, mit Fokus auf Lebensqualität und sozialer Teilhabe.
Selbst nach vielen Jahren der Erkrankung können Patienten mit schwerer Anorexie in Remission kommen. Damit dies gelingt, sollte die Psychotherapie bei ihnen weniger auf die Gewichtszunahme zielen, sondern vielmehr auf Lebensqualität und Schadensbegrenzung, betonte Prof. Dr. Martina de Zwaan von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. So führt eine kognitive Verhaltenstherapie mit dem Ziel eines stabilen, sicheren (niedrigen) Gewichts bei schwer und lang erkrankten Patienten häufig zu einer höheren Lebensqualität und einem höheren BMI – vorausgesetzt, die Betroffenen halten die Therapie durch. Adjuvant komme die Behandlung mit Olanzapin, Dronabinol, Ketamin oder Duloxetin infrage.
Vielversprechend sind nach Aussage der Psychiaterin die Ergebnisse einer Untersuchung, in der Patienten mit schwerem Verlauf mittels repetitiver transkranieller Stimulation behandelt wurden. In der Ein-Jahres-Katamnese zeigten sich nach 20 Sitzungen signifikante Verbesserungen in der depressiven Symptomatik, der essstörungsspezifischen Pathologie sowie dem BMI. In einer Fallserie konnten zudem positive Effekte auf Gewicht, Stimmung und Zwang nach tiefer Hirnstimulation beschrieben werden. Dies sollte allerdings sehr kritisch gesehen und keinesfalls überbewertet werden, warnte de Zwaan. Das Verfahren sei für diese Indikation noch experimentell.
Genau auf die Begriffswahl achten
In der Literatur werden schwere und lang andauernde Verläufe der Anorexia nervosa in erster Linie durch die Dauer der Erkrankung definiert. Diese umfasst im Schnitt drei bis sieben Jahre. Auch weisen Betroffene in der Regel mehrere gescheiterte Therapieversuche auf. De Zwaan betonte, dass Begriffe wie „chronisch“ und „therapieresistent“ nach Möglichkeit vermieden werden sollten, da damit den Patienten die Schuld an ihrer Erkrankung zugeschoben wird und sie als unheilbar brandmarkt.
Schwerkranke sofort hochkalorisch ernähren
Ihr Kollege Prof. Dr. Ulrich Voderholzer von der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee betonte, dass bei Patienten mit einem extrem niedrigen BMI von unter 13kgKG/m2 das Überleben Priorität habe. Ohnehin seien die Betroffenen kognitiv meist gar nicht in der Lage, eine Psychotherapie durchzuführen. Sie müssten erst auf ein Gewichtsniveau kommen, auf dem eine Auseinandersetzung mit psychischen Konflikten möglich werde.
Den aktuellen Leitlinienempfehlungen stehen die Studienergebnisse seiner Arbeitsgruppe entgegen. Aus ihnen lässt sich ableiten, dass man stark untergewichtige Anorexiekranke in der Klinik von Beginn an hochkalorisch ernähren sollte. Binnen vier Wochen hatten die 103 Teilnehmer, die allesamt keine schweren medizinischen Komplikationen aufwiesen, im Schnitt 4,2kg zugenommen. Der BMI der Patienten stieg von mittleren 11,5kgKG/m2 auf 13,1kgKG/m2 an. Engmaschige Kontrolle, Elektrolytsupplementierung sowie multidisziplinäre Betreuung seien allerdings unerlässlich, unterstrich Voderholzer. Viele Patienten könnten sich so stabilisieren, einige wenige sogar einen ersten Schritt in Richtung Remission gehen.
Zwangsernährung als traumatisierend erlebt
In der ambulanten Versorgung erwachsener Anorexiepatienten sei die Pharmakotherapie mit Olanzapin eine Behandlungsoption. Die Medikamente wirken zwar weniger auf die psychischen Symptome, ihre Gabe war in einer randomisiert-kontrollierten Studie im Vergleich zu Placebo jedoch mit einer moderaten Gewichtszunahme assoziiert. Auch in diesem Punkt sollte man überlegen, die aktuelle Leitlinie zu überarbeiten, so der Referent.
Die intravenöse Nährstoffzufuhr eignet sich bei den Schwerkranken nicht, da aufgrund schnell auftretender Elektrolytverschiebungen vermehrt mit Todesfällen gerechnet werden muss, warnte Voderholzer. Kurzfristig komme eher die Ernährung via Nasogastralsonde infrage, längerfristig die über eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG). Droht Lebensgefahr, könne man darüber auch zwangsernähren, was von den meisten Patienten im Nachhinein jedoch als traumatisierend beschrieben werde. Seiner Erfahrung nach seien nur wenige für diese Rettung dankbar.
Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), 26.–28.11.20