Warum es einen Anker der Menschlichkeit braucht

Dr. Werner Kerschbaum zum Abschied vom Österreichischen Roten Kreuz.
Nach dem Studium der Handelswissenschaften startete er seine Berufslaufbahn in Wirtschaftsunternehmen. Seit 1999 beim Roten Kreuz, von 2012 bis Juli 2019
als Generalsekretär.

In sieben Jahren durfte ich als Generalsekretär des Roten Kreuzes viel erleben. Besonders eingeprägt haben sich die Katastropheneinsätze: der Tsunami in Südostasien 2004, das verheerende Erdbeben in Haiti 2010 oder das Erdbeben in Italien 2016. Es gab unsagbares Leid durch die Bürgerkriege in Syrien, Jemen, Sudan und Somalia. Umso bewegender und befriedigender, wenn es trotzdem gelingt, die Lebenssituation von Menschen in Not zu verbessern und den Grundsatz der Menschlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen.
Im Inland hat das Rote Kreuz viel dazu beigetragen, dass die Pflege einen Fixplatz auf der politischen Prioritätenliste erobert hat. Die Vollversorgung aller Krankenhäuser mit Blutkonserven ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden – für uns bedeutet es, dass täglich 1.000 Menschen erfolgreich zu einer Blutspende einzuladen sind. Dass die wirkungsvolle Rolle des Roten Kreuzes bei der Verpflegung, Unterbringung und sozialmedizinischen Betreuung von mehr als einer halben Million Asylbewerbern anlässlich der großen Flüchtlingsbewegung seitens der Politik nie richtig gewürdigt wurde, ist mir bis heute unverständlich.
Das wird nichts an unserem Auftrag ändern, weiterhin staatliche Strukturen in humanitären Anliegen subsidiär zu unterstützen. Und Anlassfälle dafür wird es auch zukünftig geben. Etwa dort, wo Menschen ohne Krankenversicherung ärztliche Hilfe oder Medikamente brauchen oder sich die notwendigen Lebensmittel nicht leisten können.

Das Rote Kreuz sollte sich in Zukunft noch stärker in Partnerschaften engagieren: mit anderen gemeinnützigen Organisationen, mit der öffentlichen Hand, mit Unternehmungen und Stiftungen.
Es kann noch viel mehr Menschen zur freiwilligen Mitarbeit einladen, offen für deren Ideen sein und so verstärkt den Charakter einer Bewegung annehmen.
Als Teil der größten humanitären Bewegung der Welt wird das Österreichische Rote Kreuz – leider – auch weiterhin gebraucht werden und über seine Hilfstätigkeit hinaus eine moralische Ankerfunktion für viele Menschen ausüben, die nach Orientierung suchen und gemeinsam nach Zielen streben, die alle Menschen besserstellen. In Zeiten des Populismus ist es wichtiger geworden, auf Grund- und Menschenrechte aufzupassen. Der Mensch ist überall Mitmensch und seiner Würde ist Achtung zu verleihen.