13. Dez. 2023„Das Vertrauen der Kinder niemals missbrauchen!“

Spannungsfeld zwischen Begutachtung und Kindeswohl

Worauf bei der Befragung von Kindern und Jugendlichen nach Gewalterfahrungen zu achten ist, erklärt Psychologin und Sachverständige Univ.-Doz. Dr. Sabine Völkl-Kernstock.

Auch wenn es nach Kindesmissbrauch darum geht, Beweise zu finden und zu sichern, so sind alle involvierten Personen in erster Linie dem Kindeswohl verpflichtet. Dies wird auch in der Leitlinie für eine kindgerechte Justiz des Europarates aus dem Jahr 2010 abgebildet, sagt Univ.-Doz. Dr. Sabine Völkl-Kernstock.

Felicitas Matern

Univ.-Doz. Dr. Sabine Völkl-Kernstock

Als Psychotherapeutin, Gesundheitspsychologin und leitende Klinische Psychologin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH/Medizinische Universität Wien sowie Gerichts-Sachverständige kennt sie das Spannungsfeld zwischen Begutachtung und zugleich Wahrung der kindlichen Bedürfnisse. „Auf schonende Weise befragt, können bereits sehr junge Kinder zur Klärung beitragen.“ Was Kinder und Jugendliche jedoch als Belastung empfinden – so eine Untersuchung aus dem Jahr 2015 – sind lange Verfahren, in denen sie öfter ihre Aussagen machen müssen und die für sie nicht nachvollziehbar sind.

Die „kontradiktorische Einvernahme“ bei Gericht – also die Befragung des Kindes in einem eigenen Raum abseits des Verhandlungssaales, in dem sich die tatverdächtige Person befindet – ist Standard. Doch insgesamt müssten sich auch Fachleute fragen, wieviel an psychologischen/psychiatrischen Befragungen einem Kind oder Jugendlichen zuzumuten sind. „Besteht der Verdacht auf sexuellen Missbrauch, dann sind im Durchschnitt 7 unterschiedliche Stellen involviert“, berichtet Völkl-Kernstock. Die vielen Befragungen können sekundäre bzw. tertiäre Belastungen hervorrufen.

Eine besondere Anforderung für die gutachterliche Tätigkeit besteht dann, wenn Taten im Umfeld von Familien oder Heimaufenthalten oft erst Jahre oder gar Jahrzehnte später berichtet werden. „Kinder haben oft Angst vor familienrechtlichen Konsequenzen und wir sehen zudem, dass besonders die psychische Belastung der Mutter in Wechselwirkung mit dem Wohlergehen des Kindes steht – ganz besonders dann, wenn sich der Missbrauchs-Vorwurf gegen den Vater oder Stiefvater richtet.“

Partizipation und Selbstwert

Hilfreich ist es stets, die Kinder gut über alle notwendigen Schritte zu informieren und ihnen das Gefühl zu geben, sie könnten sich aktiv am Prozess der Begutachtung beteiligen: „Die Mitsprachemöglichkeit erhöht die wahrgenommene Fairness“, unterstreicht Völkl-Kernstock. Zudem gilt, dass gut geförderte Kinder mit guter psychischer Gesundung die besten Voraussetzungen mitbringen, sich mit ihrer Aussage in die Verhandlung einzubringen. Ein guter Selbstwert basierend auf der Erfahrung von Schutz und Stütze vom Bezugssystem gilt auch hier als zentrale Ressource. „Große Sorgen bereiten uns dagegen Kinder mit Entwicklungsrückständen und/oder psychopathologischen Auffälligkeiten.“

Völkl-Kernstock appelliert zudem an alle in der Begutachtung und Behandlung von Kindern mit Gewalterfahrungen involvierten Personen – auch Ärztinnen und Ärzte – das Vertrauen der Kinder niemals zu missbrauchen. Zusagen auf Verschwiegenheit müssten stets eingehalten werden und können bzw. dürfen somit nicht immer gegeben werden! „Trotz aller Professionalität passieren hier manchmal noch Fehler.“

Psychologisches Wissen zur Begutachtung

Mit der qualitativen Methode der „Aussagepsychologischen Begutachtung“ gelingt es vor allem nach einmaligen Missbrauchserfahrungen wertvolle Beweise zu bekommen. Schwieriger sei es bei chronischem Missbrauch: „Da ist oft schwer zu trennen, welche Aussagen auf Suggestion begründet sind oder gar vorgetäuscht werden.“

In ihrer Funktion als Sachverständige stellt Völkl-Kernstock die Wahrheitsfindung in den Mittelpunkt. „Offene Fragen sind ein wichtiges Instrument dazu. Ältere Kinder und Jugendliche können – sobald sie die Hürde der Scham überwunden haben – Dinge gut im Zusammenhang schildern.“ Je jünger die Kinder, umso mehr müssten die fragenden Personen darauf achten, nicht durch nonverbale Techniken wie Kopfnicken möglicherweise ein bestimmtes Aussageverhalten zu verstärken. Außerdem sei es bei jüngeren Kindern hilfreich, ihre Erinnerungsfähigkeit an neutralen Beispielen zu prüfen, sie etwa zu fragen, wie sie ihren letzten Geburtstag gefeiert oder die Sommerferien verbracht haben.

Wissenswert ist auch, dass Kinder erst ab etwa 8 Jahren lügen können. „Sie brauchen dazu gute kognitive Fähigkeiten, allerdings lassen sich Lügen meist durch Seitenfragen aufdecken.“ Ab 4 Jahren können Kinder allerdings bereits ihnen anvertraute Informationen geheim halten. Die Erfahrung zeige jedoch immer wieder, dass viele missbrauchte Kinder bei guter Befragung davon erzählen würden. „Daher müssen wir alle stets sehr gut hinhören und auch die Präventionsangebote an Schulen öffnen vielen Betroffen die Möglichkeit, über ihre Missbrauchs-Erfahrungen zu sprechen.“

Sexting und Missbrauch: zwei Fallbeispiele

Bei ihrem Vortrag im Rahmen der Fachtagung der Plattform für inter­­­diszi­­­plinäre Kinder- und Jugend­­­gynäkologie (PIKÖ) berichtete Univ.-Doz. Dr. Sabine Völkl-Kernstock über 2 jugendliche Opfer-Zeuginnen. Im ersten Fall wurde die Tat von der Mutter einer Freundin zur Anzeige gebracht, während das zweite Mädchen sich erst Jahre später nach einem Vortrag an der Schule darüber zu berichten getraute.

Ein 12-jähriges Mädchen hatte sich nach Sexting-Praktiken (das Versenden von sexuell eindeutigen Nachrichten) mit einem 19-jährigem Mann mit diesem für sexuelle Handlungen verabredet. Davon wurden Bilder unter anderem in einer Klassengruppe verschickt, worauf die Mutter einer Freundin den Fall zur Anzeige brachte. In der Befragung gab das Mädchen zunächst an, die Handlungen seien „im Einvernehmen“ geschehen. Bei der Konfrontation mit dem Bildmaterial sagte sie jedoch, sie wolle „mit Kinderpornographie nichts zu tun haben“. „Ihr war die Tragweite ihrer Handlungen offensichtlich nicht bewusst, sie fühlte sich jedoch durch die mediale Aufmerksamkeit gleichsam erhöht“, erklärt Völkl-Kernstock. Da sich die Eltern mit der Situation überfordert zeigten, wurde dieses Mädchen in der Folge in einem Krisenzentrum der Kinder- und Jugendhilfe betreut.

Wie später bekannt wurde, hatte derselbe Mann bereits im Alter von 15 Jahren eine damals 7-Jährige missbraucht. Diese Opferzeugin meldete sich nach dem Vortrag einer Kinderschutzorganisatin an ihrer Schule. „Das Mädchen wurde damals im familiären Umfeld von dem Burschen aufgefordert, mit ihm Verstecken zu spielen. Dabei kam es auch zur Penetrierung – das Mädchen hatte sich jedoch aus Scham jahrelang niemandem anvertraut. Nach dem Vortrag an der Schule wurde ihr bewusst, dass die Situation damals Missbrauch war und sie konnte mit ihrer Mutter darüber sprechen“, schildert Völkl-Kernstock.

Vortrag bei der Fachtagung der Plattform für interdisziplinäre Kinder- und Jugendgynäkologie (PIKÖ) Österreich, Wien, 20.10.2023.