Draussen das Virus, drinnen die Schläge
Durch die zur Eindämmung der Corona-Pandemie beschlossenen Massnahmen könnte die Inzidenz häuslicher Gewalt zunehmen. Medizinischem Personal kommt eine besondere Rolle bei der Erkennung und im Vermitteln von Hilfsangeboten zu.
Hausarztpraxen und Notfallstationen sind oft erste Anlaufstellen für Gewaltbetroffene. Vielfach steht hier allerdings die rein medizinische Versorgung im Vordergrund und es herrscht Unsicherheit über die richtige Kommunikation und Befunderhebung in diesem speziellen Fall. Dr. Christiane Rosin, Universitätsspital Basel, und Kollegen haben zusammen mit Vertretern des Berliner Vereins S.I.G.N.A.L.* Handlungsempfehlungen vorgestellt.1 Dieser Leitfaden basiert auf international anerkannten Standards für den Umgang mit häuslicher Gewalt in der Gesundheitsversorgung. Jeder Buchstabe steht für eine Empfehlung.
Definition: Alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushaltes, zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten beziehungsweise Partnern vorkommen, gelten als häusliche Gewalt. Dabei ist der Begriff nicht darauf beschränkt, dass Täter und Opfer denselben Wohnsitz haben.
S: Setzen Sie ein Signal
Die Autoren raten dazu, das Thema Gewalterfahrungen aktiv anzusprechen und Unterstützung anzubieten. Die Frage nach Gewalterfahrungen kann bei Verdachtsmomenten (s. Kasten) gestellt oder routinemässig in die Anamnese integriert werden. Dabei sollten allerdings Angehörige und Kinder im Alter über zwei Jahren gebeten werden, den Raum zu verlassen – wenn nötig unter einem Vorwand. Bei Sprachbarrieren werden professionelle Übersetzer benötigt, Kinder und Angehörige dürfen nicht als Übersetzer hinzugezogen werden. Das Ansprechen von Gewalterfahrungen sollte offen erfolgen, beispielsweise: «Viele Frauen erleben, dass ihr Partner sie respektlos behandelt oder sie sogar verletzt. Deshalb haben wir uns angewöhnt, das Thema offen anzusprechen.» Die Kommunikation sollte patientenzentriert und nach dem Kommunikationsmodell «Warten, Wiederholen, Spiegeln und Zusammenfassen» erfolgen.
I: Interview
Verdichten sich die Hinweise auf häusliche Gewalt, sollte der Verletzungshergang feinfühlig, wertschätzend und entlastend erfragt werden. Der Sachverhalt muss eruiert werden (Wer? Was? Wie? Womit? Wann? Wo?), aber die Fragen sollten sich auf das medizinisch Notwendige beschränken. Wichtig ist eine nicht wertende, empathische Haltung. Dr. Rosin und Kollegen empfehlen, immer die selbst von den Betroffenen verwendeten Formulierungen zu verwenden. Der Begriff «häusliche Gewalt» ist für die meisten Menschen zu abstrakt.
S.I.G.N.A.L. empfiehlt als Grundsätze für das Gespräch
- Betroffene zu ermutigen, über die Erfahrung zu sprechen (auf Schweigepflicht hinweisen!), und den Mut und das Vertrauen zu wertschätzen, das Ihnen damit entgegengebracht wird.
- offen und unvoreingenommen zuzuhören und keine Zweifel an den Schilderungen zu äussern, auch wenn Ihnen diese vielleicht bruchstückhaft, widersprüchlich oder nur schwer nachvollziehbar erscheinen.
- zu vermitteln, dass Gewalt Unrecht ist, und die Patientin von dem Gefühl, für die erlittene Gewalt verantwortlich zu sein, zu entlasten.
- es zu respektieren, wenn Patienten die Frage nach häuslicher Gewalt verneinen. Wenn Ihre Befürchtung bestehen bleibt, teilen Sie Ihre Sorge bei einem Folgetermin erneut mit. Wiederholen Sie Ihr Gesprächs- und Unterstützungsangebot, ohne aufdringlich zu sein.
G: Gründliche Untersuchung
Wenn die Patientin zustimmt, erfolgt eine Ganzkörperuntersuchung. Dabei sollte vollständiges Entkleiden vermieden werden. Es empfiehlt sich, jeden Untersuchungsschritt zu erläutern. Betroffene können jederzeit einzelne Untersuchungsschritte ablehnen, auch die Bildgebung nach Indikation. Dies gilt es zu notieren. Bei Berichten über sexuelle Gewalt sollte ggf. eine gynäkologische bzw. rechtsmedizinische Untersuchung veranlasst werden. Wichtig ist, dass die Untersuchung durch entsprechend qualifiziertes Fachpersonal nur einmal erfolgt und die Spuren asserviert werden.
N: Notieren aller Befunde
Die medizinischen Unterlagen dienen im Falle einer Anzeige als Beweismittel und müssen daher gerichtsfest sein. Die Dokumentation stellt meist den einzigen Nachweis der erfolgten Gewalt dar. Dokumentationsbögen als Hilfestellung sind bei S.I.G.N.A.L. e.V. online abzurufen.2
A: Abklären
Die Abklärung umfasst zwei Aspekte.
- Die medizinische Behandlungsbedürftigkeit, z.B. die Versorgung von Verletzungen inklusive Postexpositionsprophylaxe, und
- die Gefahr der Gewalteskalation nach Bekanntwerden von häuslicher Gewalt oder bei anstehenden Trennungen und ein daraus resultierendes Schutzbedürfnis.
Dieses erstreckt sich häufig auch auf die Kinder. Daher sollte erfragt werden, ob eine Rückkehr nach Hause möglich und gewünscht ist und ob unversorgte Kinder zu Hause sind. Bei Bedarf können Betroffene an eine Zufluchtsstelle wie etwa ein Frauenhaus weitervermittelt werden.
Wichtig ist, die Entscheidungen der Patienten zu respektieren. Häufig braucht Veränderung Zeit. Das Angebot der Unterstützung und die Stärkung der Ressourcen der Betroffenen kann diesen Prozess fördern.
L: Leitfaden
Gewaltbetroffene sollten durch die Information über Hilfsangebote und einen konkreten Notfallplan für den Fall einer Gewalteskalation unterstützt werden. S.I.G.N.A.L. bietet Patientenflyer in verschiedenen Sprachen mit Hilfsangeboten sowie eine Notfallkarte für Betroffene an.
Für die weitere Kontrolle sollten den Patienten Folgetermine angeboten werden. Der hausärztlichen Praxis kommt aufgrund der langjährigen Kenntnis der Familiensituation eine wichtige Rolle zu.
Warnzeichen für häusliche Gewalt
- Verletzungen, die für einen physischen Angriff sprechen (am Kopf, v.a. über der sog. Hutkrempenlinie, Abwehrverletzungen an der Kleinfingerseite des Unterarms, Bissverletzungen, Verletzungen an der Innenseite der Oberschenkel und an den Brüsten)
- verschiedene Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien
- Verzögerung zwischen Verletzung und ärztlicher Konsultation
- überdurchschnittlich viele ärztliche Konsultationen wegen Traumata
- chronische Beschwerden ohne offensichtliche Ursache (z.B. Reizdarm, «chronic pelvic pain», Schwindel)
- fortlaufende emotionale Probleme wie Angst oder Depression
- schädigende Verhaltensweisen (z.B. Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch)
- Selbstverletzung oder Suizidgedanken
- gynäkologische Auffälligkeiten (z.B. wiederholtes Auftreten sexuell übertragbarer Infektionen, ungewollte Schwangerschaften, physische Verletzungen in der Schwangerschaft)
* S.I.G.N.A.L. e.V. Intervention im Gesundheitsbereich gegen häusliche und sexualisierte Gewalt
1. Rosin C et al.
Swiss Med Forum 2020; 20: 250–255.
2. www.signal-intervention.de