22. Mai 2013Depression vom Haarausfall oder andersrum?

Haare und Seele – Kompass zur Diagnose

In der Haarsprechstunde klagt etwa jeder dritte Patient über Haarausfall ohne objektivierbaren Befund – ist aber durch die subjektive Symptomatik in seiner Lebensqualität stark eingeschränkt. Der früher häufig gebrauchte Begriff „psychogenes Pseudoeffluvium“ gilt heute als obsolet und stellt allenfalls eine vorläufige Arbeitsdiagnose dar, betonen Professor Dr. Wolfgang Harth vom Vivantes Klinikum Berlin-Spandau und Professor Dr. Ulrike Blume-Peytavi von der Charité-Universitätsmedizin Berlin.

Sie schlagen zur Bezeichnung psychosomatischer Haarerkrankungen stattdessen den Begriff „Psychotrichologie“ vor. Zu den Haarerkrankungen primär psychischer Genese zählen die selbstinduzierten Alopezien, am häufigsten kommt die Trichotillomanie vor.

Mann schaut in den Spiegel wegen Haarausfall
iStock/Goodluz

Trichophagie: Haare bis in den Kolon

Die Betroffenen mit Trichotillomanie leiden unter einer Störung der Impulskontrolle, geben auf Nachfragen die Manipulation aber häufig zu. Es handelt sich also um eine halb bewusste Störung, die oft aus einer Anspannungs- oder Konfliktsituation entsteht. Häufig manipulieren Betroffene auch in angstbesetzten Situationen oder bei verstärk­tem Konzentrationsbedarf an ihren Haaren.

Bei der Trichotemnomanie bzw. Trichoteiromanie werden die Haare abgeschnitten bzw. abgekratzt, in Einzelfällen  essen die Patienten die entfernten Haare auf (Trichophagie). Besonderes Aufsehen erregen Berichte über Haarschlucker, bei denen sich große Trichobezoare gebildet haben oder sogar ein bis ins Kolon reichender Strang („Rapunzel-Syndrom“).

Somatoforme Störung?

Schildert ein Patient Haarausfall, ohne dass der Arzt diesen objektivieren kann, liegt eventuell eine somatoforme Störung vor. Charakteristisch für diese ist die „wiederholte Darbietung körperlicher Symptome mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholt negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Ergebnisse nicht begründbar sind.“

Bei der körperdysmorphen Störung steht eine vermeintliche Entstellung im Mittelpunkt. Der Haarausfall kann aber auch Teil einer Somatisierungsstörung mit multiplen z.B. gastrointestinalen oder neurologischen Beschwerden sein – etwa als Teil eines Amalgam- oder Ökosyndroms. Oft besteht eine begleitende depressive Symptomatik.

Haarausfall: Ursache oder Folge?

Zwischen Haar- und Seelenleid kann aber auch eine umgekehrte Ursache-Wirkungs-Beziehung bestehen. Sekundäre psychische Störungen treten als Folge von teils entstellenden Haarerkrankungen auf. Schreitet eine Alopecia areata unaufhaltsam bis zum totalen Haarverlust fort, stellen sich häufig depressive Störungen und Ängste ein. Diese münden im ungünstigsten Fall in eine soziale Phobie, die zum kompletten Rückzug des Betroffenen aus dem gesellschaftlichen Leben führt.

Schließlich begegnen Ihnen in der Praxis häufig älter werdende Frauen, die unter hohem Leidensdruck wegen eines vermeintlich
pathologischen Haarausfalls stehen. Bei der klinischen Untersuchung findet sich nichts Auffälliges, der Haarverlust beträgt weniger als 100 Haare pro Tag und das Trichogramm ist unauffällig – dennoch sind die Frauen unglücklich und besorgt.

Körperliche Ursachen ausschließen

Somatische Ursachen für einen Haarausfall – von Autoimmunleiden über Schilddrüsenstörungen bis zum Eisenmangel – sind ausgeschlossen. Die meist modebewussten Frauen empfinden das physiologische Dünnerwerden der Terminalhaare (durch Verkürzung der Anagenphase) mit Volumenabnahme und Ergrauen als „Kränkung des Alterns“, wie es die beiden Autoren formulieren.

Der Begriff „psychogenes Pseudoeffluvium“ greife aber in diesen Fällen zu kurz, vielmehr sei ausgiebige Differenzialdiagnostik angezeigt. Diese sollte hypochondrische Störungen ebenso abklären wie Somatisierungsstörungen und Dysmorphophobien, betonen die Kollegen. Häufig wird man auch Depressionen, Angst- oder Belastungsstörungen finden.

Je nach Diagnose kommen in der Psychotrichologie ausgesprochen unterschiedliche Therapiekonzepte zum Einsatz. Bei Patienten mit Trichotillomanie lassen sich mit Verhaltenstherapie sehr gute Ergebnisse erzielen. Auch Clomipramin wurde in kontrollierten Studien erfolgreich eingesetzt, wirkte allerdings schwächer als Verhaltenstherapie.

Bei Alopecia areata kann Psychotherapie helfen

Nur wenige Studien gibt es bislang zur Behandlung mit Antidepressiva. Bei androgenetischem Haarausfall haben sich z.B. selektive Serotonin-Reuptake-Hemmer als vorteilhaft erwiesen, so die Autoren. Bei Patienten mit sekundär psychischen Störungen kommt es entscheidend auf die Therapie der zugrunde liegenden Haarerkrankung an.

Da bei einer Subgruppe der Alopecia areata stressvolle Lebensereignisse eine wichtige Rolle spielen, die psychische Komorbidität 66 % beträgt und der Leidensdruck hoch ist, liegt bei diesen Patienten eine psychotherapeutische Herangehensweise nahe. Eine ausgeprägte psychische Komorbidität lässt sich dadurch nachweislich beeinflussen.

Junge Männer in Angst

Laut Studiendaten beunruhigen sich mehr als 70 % aller Männer zwischen 25 und 49 Jahren über den Verlust ihres Schopfes. Schütterwerden in jungen Jahren geht nachweislich mit höheren Depressionswerten, schlechterem Selbstwertgefühl, Abkapselung und Neurotizismus einher.

Quelle: Wolfgang Harth, Ulrike Blume-Peytavi, JDDG 2013; 11: online first