Wie überlebt man sechs Tage im Gletscher?
Österreichische Ärzte erklären die Details, wie der Bergwanderer am Leben blieb: Passiert war das Unglück, als der ältere Herr in den österreichischen Alpen auf etwa 3000 m Höhe allein einen Gletscher überquerte. Er übersah eine Spalte und stürzte etwa 10 m tief hinein. Aus eigener Kraft konnte er sich daraus nicht befreien, zumal er weder Eispickel noch Steigeisen bei sich trug. Hilfe holen per Mobiltelefon? Unmöglich, das Eisfeld lag im Funkloch.
Also richtete sich der Patient in seinem Eisgefängnis ein – fest entschlossen zu überleben. Am wichtigsten war es jetzt, den Wärmeverlust gering zu halten. Also setzte er sich als einigermaßen trockene Grundlage auf seinen Rucksack. Den Körper hüllte er in eine Rettungsfolie (200 x 135 cm) und steckte die Hände in die Achselhöhlen. Um auch noch die Wärme der Ausatemluft zu nutzen, zog er den Kragen des Pullovers über die Nase.
Elektrolytverlust kritischer als Kalorienmangel
Damit sein Essensvorrat länger reichte, gönnte er sich jeden Tag nur ein paar Kekse und eine Rippe Schokolade (ca. 800 kJ). Gegen den Durst half das Schmelzwasser vom Gletscher mehr schlecht als recht.
Kritischer als der Kalorienmangel ist bei derartigen Unfällen der Wasser- und Elektrolytverlust über Urin und Atemluft, das extrem salzarme Gletscherwasser verschlimmert die Situation noch, erläutern Dr. Peter Paal von der Klinik für Anästhesie und Notfallmedizin der Universität Innsbruck und seine Kollegen.
Die einzige Rettungsmöglichkeit für den Verunglückten bestand darin, eventuell vorbeigehende Bergwanderer auf sich aufmerksam zu machen. Deshalb rief er tagsüber immer wieder laut um Hilfe. Mit Erfolg – wenn auch spät. Am sechsten Tag hörten Wanderer seine Rufe und alarmierten die Bergrettung. Der Verunglückte wurde in ein lokales Krankenhaus geflogen, seine Körperkerntemperatur wurde mit 33,5 °C bestimmt.
Fußzehen mussten amputiert werden
Die Kollegen in der Klinik stellten fest, dass sich der Mann bei seinem Sturz diverse Frakturen zugezogen hatte, Oberkiefer, Rippen, Wirbel und Trochanter major waren gebrochen. Außerdem hatte der tagelange Kontakt mit dem eiskalten Gletscherwasser seinen Tribut gefordet: Erfrierungen an beiden Füßen – sechs Wochen später mussten wegen Nekrotisierung die beide Großzehen amputiert werden.
Insgesamt hat der 70-Jährige einen schier unglaublichen Rekord aufgestellt: Noch nie überlebte ein Mensch nach einem Sturz in einer Gletscherspalte länger als einen Tag, der Bergwanderer schaffte fast eine Woche. Mit ausschlaggebend war der relativ geringe Wärmeverlust, bis zu seiner Rettung nach sechs Tagen war er nur um ca. 3,5 °C ausgekühlt. Man hätte mehr erwartet, so die Kollegen aus Innsbruck. Wahrscheinlich hatte die Folie stärkeren Wärmeverlust verhindert und Feuchtigkeit ferngehalten. Glück im Unglück hatte der Mann auch mit dem ungewöhnlich warmen Wetter im vergangenen Sommer, dadurch sanken die Temperaturen in der Gletscherspalte wahrscheinlich nicht weit unter 0 °C.
Peter Paal et al., Lancet 2013, 506