31. Okt. 2022Jurisprudenz im ärztlichen Alltag

Wie weit geht die ärztliche Schweigepflicht?

Neben den medizinischen hat der ärztliche Alltag auch juristische Feinheiten. Eine Expertin klärt auf, wann Ärzte ein Geheimnis für sich behalten müssen, wann sie von einer Schweigepflicht entbunden sind, und wann sie sogar verpflichtet sind, Zeugnis abzulegen.

Schwarzer Banksafe mit offener Stahltür und goldenem Licht innen, perspektivische Ansicht
Andrei Akushevich/gettyimages

Die Schweigepflicht – beziehungsweise das Berufsgeheimnis – ist in Artikel 321 des Schweizer Strafgesetzbuches (StGB) definiert und wird als Berufspflicht auch in Artikel 40 des Medizinalberufegesetz festgehalten.

«Ärzte, die ein Geheimnis offenbaren, das ihnen infolge ihres Berufes anvertraut wurde, oder das sie in dessen Ausübung wahrgenommen haben, werden, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft», führt lic. iur. RA Beatrice Rutishauser, Stv. Generalsekretärin, Rechtskonsulentin bei der ÄrzteGesellschaft des Kantons Zürich, aus. Verletzt ein Arzt die Schweigepflicht, hat er also mit erheblichen Strafen zu rechnen.

Entbindung vom Berufsgeheimnis: Durch Patient oder Behörde

Rutishauser stellt aber eines klar: «Ein Arzt macht sich nicht strafbar, wenn er das Geheimnis mit Einwilligung des Berechtigten oder mit schriftlicher erteilter Bewilligung einer vorgesetzten Behörde bzw. die Aufsichtsbehörde offenbart hat. Durch diese Aktivitäten erfährt das Geheimnis eine sogenannte Entbindung.» Vorbehalten sind die eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über Melderecht und -pflichten sowie die gesetzlichen Mitwirkungspflichten, so z.B. die Zeugnispflicht oder die Auskunftspflicht gegenüber einer Sozialversicherungsbehörde.

Der Patient kann den Arzt vom Berufsgeheimnis entbinden, sodass dieser Geheimnisse aus der Behandlung Dritten gegenüber offenbaren darf. «Dritte sind alle ausser dem behandelnden Arzt und dem Patienten,» erklärt Rutishauser. Also auch Ehemann bzw. Ehefrau, die hinterbliebenen Ehegatten oder Kinder, aber auch andere Ärzte.

Kann der Patient die Entbindung nicht geben, sei es, dass er verstorben ist oder dass er urteilsunfähig ist, kann die Gesundheitsdirektion an dessen Stelle im Anlassfall die Entbindung erteilen.

Ans Strassenverkehrsamt kann, muss der Arzt aber nicht melden

Auch Meldepflichten und Melderechte sind im Gesetz vorgesehen. Bei einer Meldepflicht ist der Arzt verpflichtet zur Auskunft, ohne dass eine Entbindung des Patienten vorliegt. Als Beispiel dafür bringt die Expertin den aussergewöhnlichen Todesfall (AGT), Schwangerschaftsabbrüche, oder übertragbare Krankheiten, die an die verschiedenen Behörden gemeldet werden müssen.

Bei einem Melderecht hingegen darf der Arzt Auskunft geben, muss dies aber nicht tun. Dazu gehört beispielsweise eine Meldung beim Strassenverkehrsamt, oder eine Behördenmeldung bei Gefährdung der körperlichen psychischen oder sexuellen Integrität des Kindes. Die Auskunftspflicht gegenüber einem Elternteil, der nicht sorgeberechtigt ist, ergibt sich aus dem Zivilgesetzbuch: Besteht ein getrenntes Sorgerecht, sind Ärzte beiden Elternteilen gegenüber zur Auskunft verpflichtet, ohne dass eine Entbindung des anderen sorgeberechtigten Elternteils eingeholt werden muss.

Medizinische Behandlung von urteilsfähigen Jugendlichen

Ob Patienten urteilsfähig sind, muss immer für die jeweilige Fragestellung in der jeweiligen Situation beurteilt werden. «Das Gesetz sagt, dass man urteilsfähig ist, wenn man aufgrund seiner geistigen Entwicklung und Gesundheit in der Lage ist, vernünftig zu handeln, über Einsichtsfähigkeit verfügt, sowie, sich einen Willen bilden und auch danach handeln kann», fasst Rutishauser zusammen.

Kinder und Jugendliche gelten grundsätzlich und in der Regel ab 12 Jahren als urteilsfähig, und dürfen im Rahmen der höchstpersönlichen Rechte (die medizinische Behandlung ist ein höchstpersönliches Recht) entscheiden, welche Behandlungen sie sich unterziehen wollen. «Sie dürfen auch selbst entscheiden, wer informiert werden darf» erinnert die Expertin. Ob Jugendliche urteilsfähig sind, hängt aber auch sehr von der individuellen Reife und vom Schweregrad der Behandlung ab.

Rutishauser bringt hier das Beispiel Halsweh oder Krebstherapie: Die Risiken dieser Behandlungen und die Tragweite der Situation entscheiden über die Urteilsfähigkeit. Als Faustregel gilt, dass die Urteilsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen über 12 Jahren in Bezug auf einfache Behandlungen und Eingriffe in der Regel anzunehmen ist. Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren gelten in der Regel auch bei komplizierten Behandlungen und Eingriffen als urteilsfähig und Jugendliche ab 16 Jahren gelten grundsätzlich als urteilsfähig.

Die urteilsfähigen Jugendlichen dürfen somit auch über die Entbindung vom Berufsgeheimnis entscheiden – der Arzt darf den Eltern nur dann Auskunft geben, wenn der Jugendliche damit einverstanden ist. Das betrifft etwa die elterliche Nachfrage, ob eine Jugendliche die Antibabypille einnimmt.

«Urteilsfähigkeit ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Geschäftsfähigkeit», erinnert Rutishauser. «Die Rechnung des Arztes geht also in jedem Fall an die Eltern, da der oder die Jugendliche noch nicht geschäftsfähig ist – die Eltern haben auch die Krankenversicherung für ihre Kinder abgeschlossen.» Rutishauser empfiehlt deshalb eine gute und offene Kommunikation mit den jugendlichen Patienten.

Das Arbeitsunfähigkeitszeugnis ist auch rückwirkend zulässig

Im Regelfall werden Arbeitsunfähigkeitszeugnisse nach drei Arbeitstagen verlangt - in vielen Gesamtarbeits- und Arbeitsverträgen sind jedoch auch andere Regeln vorgegeben. «Es kann nach oben und nach unten abgewichen werden, das ist vom Gesetz her zulässig» sagt Rutishauser.

Ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis ist eine Urkunde im Sinne des Strafgesetzbuches. Finden sich darauf eigene – von denjenigen des Arztes abweichende – Angaben des Patienten, kann das als Urkundenfälschung ausgelegt werden. Das bedeutet, dass Datum, Stempel und die eigenhändige Unterschrift des Arztes auf das Arbeitsunfähigkeitszeugnis müssen.

Rückwirkende Zeugnisse sind zulässig unter bestimmten Bedingungen: Das Datum der Ausstellung des Zeugnisses muss auf die Urkunde, der Konsultationstag, also der Beginn der Behandlung und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit. Zulässig sind auch Arbeitsunfähigkeitszeugnis auf unbestimmte Zeit, auch hier gelten bestimmte Voraussetzungen: Wenn über die betreffende Mindestdauer keine Angaben gemacht werden können, ist entweder das Datum der nächsten Konsultation zu nennen oder es ist ein Termin festzulegen, an welchem die Arbeitsfähigkeit neu beurteilt werden kann.

Eingeschränkt zulässig sind Zeugnisse gestützt auf telefonische Krankheitsmeldungen. «Ein solches Vorgehen ist wirklich nur dann zu empfehlen, wenn es sich um Patienten handelt, die dem Arzt sehr gut bekannt sind» rät die Expertin. Das Zeugnis sollte dann zusätzlich den Hinweis enthalten, dass es sich auf eine telefonische Krankheitsmeldung stützt. Die ärztliche Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber gilt absolut, nur der Patient kann den Arzt entsprechend entbinden.

Zeugnis kann nicht separat verrechnet werden

Das Arbeitsunfähigkeitszeugnis kann als Beweismittel im Rahmen eines arbeitsrechtlichen Streites verwendet werden, etwa, wenn es um die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers geht. Dann untersteht es der freien Beweiswürdigung durch das Gericht. Dabei entscheidet der Richter nach seiner freien Überzeugung, ob etwas als bewiesen angesehen wird oder nicht. Ob etwas als bewiesen angesehen wird oder nicht - diese Entscheidung ist nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen und muss begründet werden.

Der Tarifdienst der FMH hat festgelegt, dass das Ausstellen eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses Bestandteil der Konsultation ist – es kann somit also nicht separat bzw. zusätzlich verrechnet werden.

Quelle

WebUp «Updates für Hausärztinnen und Hausärzte - 6 Highlights in 60 Minuten» des Forums Medizin Fortbildung (FoMF) vom 26.09.2022