Neurogene Blasenstörungen: Müssen, ohne zu wollen
Screenen mittels Restharnmessung, behandeln mit Antimuskarinika – das sind zwei der Empfehlungen aus der Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen. Einen gänzlich neuen Ansatz gibt es in der Behandlung des überaktiven Detrusors.
Neurogene Blasenstörungen können viele Ursachen haben. Das diag- nostische Vorgehen unterscheidet sich dennoch bei den verschiedenen Störungsbildern kaum (s. Tabelle). Neu ist die Empfehlung der Restharnmessung als Screeningmethode. Sie kann sonografisch oder per Einmalkatheterismus erfolgen. Sonografisch wird nach der Miktion im Querschnitt die Breite (a) und die Tiefe (b) und im Längsschnitt die Länge (c) bestimmt. Das Volumen wird nach der Formel V = a × b × c × 0,5 in ml errechnet.
Gerade bei älteren Patienten kann auch eine nichtneurogene Blasenstörung (z.B. Beckenbodenprolaps bei der Frau oder Prostatahyperplasie beim Mann) vorliegen. Solche Ursachen sollten ausgeschlossen werden.
Pharmakotherapie mit mindestens zwei Präparaten
Die Einteilung der neurogenen Blasenstörungen erfolgt anhand der klinischen Symptome und der apparativen Zusatzuntersuchungen. Es werden Detrusorüberaktivität, Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, hypokontraktiler Detrusor und hypoaktiver Sphinkter unterschieden.
Die Therapie hat folgende Ziele:
- den oberen Harntrakt schützen,
- die Kontinenz verbessern,
- die Lebensqualität steigern und
- die Funktion des unteren Harntrakts so weit wie möglich wiederherstellen.
Dabei sind individuelle Besonderheiten des Patienten, Kosteneffektivität und Komplikationsmöglichkeiten mit zu beachten.
Bei einer Detrusorüberaktivität neurogener Ursache sollten zunächst begleitende nichtneurogene Ursachen behandelt werden, auch wenn diese die Symptome in der Regel nicht bessern können. Zur Therapie der neurogenen Detrusorüberaktivität empfiehlt die Leitlinie als nicht-invasive Behandlungsmöglichkeiten primär das Blasentraining und die Gabe von Anticholinergika. Beim Blasentraining wird durch Herauszögern der Miktion bei Harndrang versucht, normale Miktionsvolumina und -frequenzen zu erreichen. Die pharmakologische Therapie mit Anticholinergika sollte über mindestens vier bis sechs Wochen und mit mindestens zwei verschiedenen Präparaten erfolgen.
Eine regelmässige Kontrolle der Restharnmenge wird empfohlen, da sich eine Detrusorhypoaktivität entwickeln kann. Eine neue pharmakologische Therapiemöglichkeit ist Mirabegron, ein selektiver Agonist des humanen b-3-Adrenozeptors (b-3-AR), der sich im Detrusor findet. Die Leitlinienautoren um Professor Dr. Carl-Albrecht Haensch von den Kliniken Maria Hilf in Mönchengladbach weisen allerdings darauf hin, dass die klinischen Erfahrungen mit der Substanz bei der neurogenen Blasenstörung noch begrenzt sind. Als invasive Therapiemöglichkeiten der Detrusorhyperaktivität kommen in erster Linie die chronische Sakralwurzelstimulation, die intravesikale Botulinumtoxin-Injektion sowie die Blasenaugmentation infrage.
Diagnostische Kaskade für alle neurogenen Blasenstörungen
- Anamnese
- neurologische und urologische Untersuchung, ggf. gynäkologische Untersuchung
- Blasentagebuch über mindestens drei Tage
- Urinsediment (Mittelstrahl-, besser Katheterurin)
- Restharnmessung (sonografisch oder mittels Einmalkatheterismus)
- Harnstrahlmessung (Uroflow)
- (Video-)Urodynamik mit Beckenboden-EMG
- Urethrozystoskopie und Harnblasenspülzytologie
- Nierensonografie
- Kreatinin, Harnstoff, evtl. 24-Stunden-Kreatinin-Clearance
- bei vesikorenalem Reflux: Lasix- oder Belastungs-Isotopennephrogramm (Dokumentation des Ausgangsbefundes)
- ggf. zusätzlich elektrophysiologische Untersuchungen zur weiteren Eingrenzung der neurogenen Störung
Valsalva-Manöver und Credé-Handgriff sind out
Zur Therapie der Detrusor-Sphinkter- Dyssynergie empfehlen Prof. Haensch und Kollegen, die Patienten frühzeitig auf einen sauberen Einmalkatheterismus einzustellen. Die Häufigkeit der Katheterisierung richtet sich nach der urodynamischen Blasenkapazität. Der Blasendruck sollte 40 cm H2O nicht übersteigen. Die Kollegen betonen, dass ältere Verfahren wie Credé-Handgriff oder Valsalva-Manöver obsolet sind. Die antimuskarinerge (anticholinerge) Therapie kann unterstützend eingesetzt werden, als alleinige Therapie ist sie in der Regel nicht ausreichend. Die Erfahrungen mit Mirabegron und der perkutanen und transkutanen tibialen Nervenstimulation sind noch zu begrenzt für eine klare Empfehlung.
Als invasive Verfahren nennt die Leitlinie vorrangig die intravesikale Botulinumtoxin-Injektion, bei kompletter Rückenmarksverletzung die sakrale Vorderwurzelstimulation (kombiniert mit dorsaler Rhizotomie), ausserdem die Sphinkterotomie und die Blasenaugmentation. Die Botulinumtoxin-Injektion in die Blase erhöhte in Studien bei bis zu 85 % aller Patienten die Blasenkapazität und reduzierte so den Reflux und Inkontinenzepisoden.
Ein hypokontraktiler Detrusor kann mit einer vorübergehenden suprapubischen Harndauerableitung behandelt werden. Sie sollte Tag und Nacht über mindestens zwölf Wochen erfolgen. Die Therapie ist erfolgreich, wenn die Restharnmenge unter 100 ml liegt, weniger als drei Zystitiden pro Jahr und keine Pyelonephritiden auftreten. Unterstützend kann eine Pharmakotherapie mit einem Cholinergikum oder einem Alphablocker erfolgen. Wenn diese Massnahmen nicht erfolgreich sind, kommen die chronische Sakralwurzelstimulation, die intravesikale Elektrotherapie oder ein sauberer Einmalkatheterismus als Behandlungsmöglichkeiten infrage.
Gegen Nykturie kann Desmopressin helfen
Liegt ein hypoaktiver Sphinkter vor, empfehlen die DGN-Experten primär ein Beckenbodentraining, das in Studien bei qualifizierter Anleitung zu einer Symptomverbesserung geführt hat. Die Evidenz für die günstigen Effekte des Biofeedbacktrainings ist demgegenüber geringer. Die Therapie mit Duloxetin kann bei leichter bis mittlerer Inkontinenz sinnvoll sein, ist aber nur für die Harnbelastungs-Inkontinenz gesichert. Sind konservative Therapien nicht ausreichend, hilft gegebenenfalls ein artifizielles Sphinktersystem oder die transurethrale Unterspritzung des Sphinkters mit sogenannten Bulking agents.
Liegt eine Nykturie vor und wurden andere Ursachen einer nächtlichen Polyurie (z.B. Diabetes, abendliche Diuretikaeinnahme) ausgeschlossen, kann Desmopressin eingesetzt werden. Die abendliche Trinkmenge sollte dabei reduziert werden. Ein Versuch mit einem Antimuskarinikum ist nach Leitlinie bei verminderter Blasenkapazität aufgrund eines hyperaktiven Detrusors möglich.
Haensch CA et al. S1-Leitlinie Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen, AWMF-Register-Nr. 030/121, www.awmf.org